27. Dezember 1969: Fest im braunen Drillich

27.12.2019, 07:27 Uhr
27. Dezember 1969: Fest im braunen Drillich

© Foto: Otto Frey

Die Gemeinde hatte sich in der Kapelle versammelt. Das Licht dreier Christbäume tauchte die nüchternen weiß getünchten Wände in ein freundlicheres Licht. Es war eine Kirchengemeinde besonderer Art, die sich nun zum Gebet von den Plätzen erhob: die Männer trugen einheitliche braune Drilliche. 623 Insassen der Nürnberger Strafanstalten – darunter 25 Frauen – erlebten Weihmachten diesmal hinter Gittern. Der Staat schenkte jedem einzelnen einen Weihnachtsteller, einen ein Kilo schweren Christstollen, einen Tannenzweig und eine Kerze für die schmale Zelle.

Gefangenenchor sang

Die kirchliche Feier in der Kapelle war der einzige Höhepunkt der Festtage. Der Gefangenenchor sang „Stern über Bethlehem“. Es ist ein Chor von tiefen, schönen Stimmen. Auch die Kantate für Violine und Orgel in F-Dur von Friedrich Händel trug zu der gesammelten, ernsten Stimmung bei.

Der Schauspieler Karl Hüls vorn Stadttheater Nürnberg trug das Melodram „Das Glöcklein von Innesfär“ vor, das Domorganist Winsch aus Bamberg auf der Orgel untermalte. In den Gesichtern der Gefangenen blieb jede Regung verborgen. Inzwischen sind Hunderte von Weihnachtspaketen in den Nürnberger Strafanstalten angekommen, den Insassen von Verwandten und Nahestehenden liebevoll gepackt und zugeschickt. Die Pakete mußten streng nach Vorschriften unter den Augen des Empfängers von einem Beamten geöffnet und untersucht werden. Doch dann, in seiner Zelle mit den Geschenken alleine wurde so mancher Gefangene von der Traurigkeit seines Loses überwältigt.

Fest bei der Familie

44 Insassen hatten die Erlaubnis erhalten, Weihnachten bei ihren Familien zu verbringen. Im letzten Jahr waren es nur acht „Heimaturlauber“ gewesen. Sie hatten die Anstaltsleitung nicht enttäuscht und waren zu ihrem Wort gestanden, pünktlich zurückzukehren. Auch diesmal waren die Gefangenen mit dem Hinweis in Freiheit entlassen worden, am Nachmittag des 2. Januars pünktlich wieder zum Strafvollzug zurückzukehren.

35 Häftlinge dagegen durften sich noch mehr freuen: sie wurden aufgrund einer Amnestie vorzeitig entlassen. Weihnachten im Gefängnis unterscheidet sich nur in kleinen Nuancen von einem „gewöhnlichen“ Sonntag. Der Speisezettel ist mit Schweinebraten und Koteletts etwas üppiger als sonst, und einem Teil der Gefangenen ist die Möglichkeit gegeben, am Fernsehschirm zu sitzen.

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