Krümelmonster kein Fall für die Psychiatrie

8.7.2011, 18:50 Uhr
Krümelmonster kein Fall für die Psychiatrie

NZ: Ist denn jedem von uns ein Sinn für Ordnung gegeben?

Jörg Pscherer: Man könnte genauso gut sagen, es gibt einen Sinn für Unordnung. Es existiert kein biologisches Gen dafür. Aber es gibt einen Ordnungssinn als Persönlichkeitsdimension zwischen den Polen Ordnung und Unordnung. Der Persönlichkeitsforscher Hans Jürgen Eysenck zum Beispiel hat ein Fünf-Faktoren-Modell entwickelt: Einer dieser Persönlichkeitsfaktoren ist die Gewissenhaftigkeit, also so etwas wie Ordnungssinn, Disziplin, Zuverlässigkeit. Genau wie es Disziplin gibt, gibt es auch mangelnde Disziplin. Manchmal ist die mangelnde Disziplin sogar sinnvoll. Sachen auch mal liegen zu lassen, kann durchaus okay sein. Ordnung ist nur die eine Seite der Medaille. Menschen neigen zu beiden Seiten.

NZ: Jeder?

Pscherer: Im Einzelfall kann ich natürlich sagen, der eine hat mehr Sinn für Ordnung, und der andere neigt eher zur Unordnung. Neben dem starken Einfluss der Erziehung ist dies aber auch von der Situation abhängig. Bin ich gerade sehr gestresst, neige ich möglicherweise in dieser Phase eher zur Unordnung und bin selbst von mir überrascht, wenn ich doch sonst ausgeglichen bin und meinen Sinn für Ordnung besser leben kann.

NZ: Ist jemand, der unordentlich ist, auch unpünktlich? Ist er insgesamt undisziplinierter?

Pscherer: Da muss man schon ein bisschen aufpassen. Es gibt natürlich gewisse Tendenzen, deshalb spricht man auch von Persönlichkeitstendenzen. Aber es wäre zu pauschal zu sagen, jeder, der unordentlich ist, ist auch undiszipliniert und unpünktlich. Mit den Stereotypen muss man vorsichtig sein. Wir kennen ja auch Ordnungsfanatiker, die immer zu spät kommen, weil sie nie fertig werden. Dieser Satz ist übrigens ebenfalls ein Stereotyp.

NZ: Was verleitet Menschen dazu, vermüllte Orte weiter zu vermüllen? Warum stellen manche ihren Kühlschrank am Altglascontainer ab?

Pscherer: Da handelt es sich um Rückkopplungseffekte, das heißt, ein Verhalten verstärkt sich selbst, es hält sich selbst aufrecht. Mehr führt zu mehr. Wir wissen das aus der Broken-Window-Theorie – der Theorie der zerbrochenen Fenster, die aus den USA stammt. Sie beschreibt Folgendes: Ein an sich harmloses Phänomen, also ein zerbrochenes Fenster in einem leer stehenden Haus, kann zu völliger Demolierung des Gebäudes führen. In einem dreckigen Umfeld werfen Menschen mehr Abfall weg als in einer sauberen Umgebung. Es geht um den sozialen Einfluss.

Ein Klima der Anonymität spielt eine wichtige Rolle. An abgelegenen Orten oder bei Massenveranstaltungen sinkt das Gefühl für Verantwortlichkeit. Das ist ein soziales Phänomen. Bereits vorhandener Müll senkt die Hemmschwelle, das Müllen wird quasi als legal betrachtet. Der eine wirft etwas hin, also darf ich das auch. Der nächste kommt und denkt ähnlich, deponiert ebenfalls Abfall und trägt dazu bei, die Hemmschwelle weiter zu senken. Und manchmal ist schlichtweg Naivität im Spiel: Aha, das muss ein Wertstoffhof sein, da kann man die Sachen ja abstellen.

NZ: Was stimmt bei den Messies nicht?

Pscherer: Der Messie-Begriff ist populär, doch er ist kein Diagnose-Begriff. In Diagnose-Schemata gibt es ihn nicht. Das Phänomen existiert aber natürlich. Es kann sein, dass der sogenannte Messie zwangskrank ist. Auch hier spielt die Erziehung eine wichtige Rolle. Extreme Sauberkeitserziehung kann dazu führen, dass später genau das Gegenteil entsteht. Oder der Mensch leidet unter dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom oder an einer Alterskrankheit wie Demenz. Es können Psychosen zugrunde liegen, die den Zerfall der eigenen Wahrnehmung, des eigenen Denkens zur Folge haben. Und auch Suchtphänomene können eine Rolle spielen. Da gibt es unterschiedliche Erklärungsmuster, man ist jetzt dabei, das Feld immer mehr zu erforschen.

Hier liegt eine psychische Krankheit vor, nicht von Dingen lassen zu können, die im Allgemeinen als wertlos oder verbraucht gelten. Messie-Verhalten ist eine Selbstregulationsschwäche, das heißt, die Schwäche, das eigene Verhalten zu kontrollieren und Prioritäten zu setzen. Aber Vorsicht, nicht jede Unordnung im Alltag, Zeitungsstapel oder Küchenchaos weist auf eine Messie-Erkrankung hin. Bitte den lieben Partner, der ein Krümelmonster ist, nicht gleich in der Psychiatrie abliefern.

NZ: Es sind also keine Messies, die ihren Müll in den Wald werfen?

Pscherer: Der Messie vermüllt eher nicht den Wald, der vermüllt seine Wohnung. Im öffentlichen Raum geht es um das „Littering“ – das achtlose Wegwerfen und Liegenlassen von Abfällen. Und das ist etwas, was im Gegensatz zum Messie-Verhalten, strafbar ist. „Littering“ ist kein Kavaliersdelikt. Im Unterschied zum Messie, ohne dessen Problematik zu beschönigen, ist der „Litter“-Täter bequem, gleichgültig, unwissend oder will einfach provozieren. Es gibt unterschiedliche Motivationen. alle sind verantwortungslos, aber keine Krankheit.

NZ: Geldbußen helfen nicht?

Pscherer: Geldbußen sind natürlich ein Mittel zur Abschreckung. Aber Abschreckung allein bringt relativ wenig. Das kennen wir von der Reaktion der Raucher auf die Warnhinweise auf den Zigarettenschachteln. Sie haben bestenfalls einen kurzfristigen Effekt. Wichtig für Prävention sind die drei As: Ahnden, Aufklären und Aufräumen. Warum? Weil die direkte Beteiligung der Bürger die Anonymität durchbricht. Wir kennen eine solche Kampagne aus Nürnberg unter dem Motto „Kehrd wärd“.

NZ: Hat derjenige, der öffentlich müllt, auch ein vermülltes Zuhause?

Pscherer: Die Öffentlichkeit ist anonym, das Zuhause ist persönlich. Man schützt es entweder oder man vermüllt es aufgrund krankhafter Defekte. Ein direkter Zusammenhang besteht da nicht. Der Umweltverschmutzer mag vielleicht sogar ein besonders schmuckes Heim.

Keine Kommentare