«Du willst es doch auch!«

4.2.2008, 00:00 Uhr
«Du willst es doch auch!«

© Bührle

Dann aber kracht es. Eine erschossene Ente stürzt senkrecht herab und durchschlägt das Hausdach. Als die Jäger später ihre Beute bergen, muss das Publikum allerdings feststellen, dass es sich um ein zerrupftes und zerdrücktes Exemplar handelt, das wohl schon vor Jahresfrist an Vogelgrippe verendete.

Und wenn wir gerade beim symbolträchtigen Federvieh sind, dann hier gleich die Warnung an alle Deutschlehrer und anderen Bildungsbürger: In eine Beziehung oder gar Nachfolge zu den berühmten Vogeldramen der Weltliteratur - also Ibsens «Wildente« oder Tschechows «Möwe« - lässt sich das hier gespielte Stück nicht stellen. Dazu ist Roland Schimmelpfennigs «Besuch bei dem Vater« denn doch zu flach.

Übrigens auch im Sinne von «flachlegen«. Der saloppe Ausdruck erscheint im Nürnberger Schauspielhaus als der einzig angemessene für ein Trieb-Werk, in dem es nur darum geht, die reichlich vorhandenen Frauen...

Aber wir greifen voraus, wenngleich nicht allzu weit. Noch sind drei Vertreterinnen besagter Weiblichkeit damit beschäftigt, den Schnee von der Vorderbühne wegzufegen. Bedingt durch reichliche Niederschläge, dauert dies eine beträchtliche Weile, und die drei Grazien haben Gelegenheit, sämtliche Strophen eines plattdeutschen Volksliedes abzusingen. Wir blicken besorgt auf die Armbanduhr, denn wir wissen, dass die Vorstellungsdauer lediglich eindreiviertel Stunden beträgt: Wenn die Damen noch lange so fegen und trällern...

Keine Bange. Es kommt ohnehin nicht mehr viel. Peter kommt. Er ist der verlorene Sohn. Erst jetzt, nach 20 Jahren, hat der Hausherr Heinrich von seiner Existenz erfahren. Die Zusammenführung von Vater und Filius entgleist von Anfang an. Peter, offenbar ein seefahrender Weltenbummler, hat seinem Erzeuger ein folkloristisches Hemd aus St. Louis mitgebracht. Heinrich spricht sein Geschmacksurteil offen aus: «Es ist entsetzlich!« Wir schließen uns einhellig diesem Diktum an.

Nur Sonja nicht. Die Nichte von Heinrichs Frau Edith entblößt spontan ihren Oberkörper (beachtlich: Gina Henkel), um die Geschmacksverirrung überzustreifen. «Manchmal sieht man für den Bruchteil einer Sekunde alles vor sich«, sagt Edith. Sie meint die Zukunft, aber Peter hat seine eigene, direkte Meinung und ergreift, ohne sich noch länger mit seinem linkischen Vater aufzuhalten, die Nichte. Immerhin hatte sie zuvor getönt, sie wolle unbedingt ein Kind. Im Hinblick auf dieses Bedürfnis machte sich auch Heinrich, ein Anglistik-Professor mit sicherlich herausragendem Erbmaterial, anheischig. Doch was gelten Geistesgaben und das prickelnde Erlebnis einer gemeinsamen Entenjagd gegen das Testosteron-triefende Herandrängen und den tiefen Auszieh-Blick des Jungmanns (Jan Ole Sroka)!

Wie ein Bock

in einer Ziegenherde

Hier könnte sich ein Vater-Sohn-Konflikt attisch-antikischen Ausmaßes anbahnen, zumal auch die Ehefrau dem Sohn zuneigt. Doch Schimmelpfennigs Tragödien-Trümmer orientieren sich eher an den Gesetzen der Tierwelt. Es ist, als ob ein Bock in eine Herde paarungsbereiter Ziegen einfällt und nun eine nach der anderen bespringt.

Dem kommt entgegen, dass in diesem Hause außer Heinrich nur Frauen weilen: Edith ist schon älter, aber umso begattungswilliger - sofern ihr nicht der Gatte gegenübersteht. Ihre Tochter aus früherer Ehe (Tanja Kübler), präsentiert sich als Vamp im knappen Lederdress (Kostüme: Sonja Albartus), damit der Sohnemann sie im Überangebot nicht übersieht. Bei Isabel (Rebecca Kirchmann) weiß man es nicht so recht, sie scheint sich vor allem für ihr Handy zu interessieren, was sie wiederum vor dem Semi-Inzest schützt, denn sie ist Peters Halbschwester.

In diese Bresche springt, ohne zu zögern, Nadja (Julia Grafflage), die Tochter von Heinrichs Professoren-Kollegin (Jutta Richter-Haaser). Selbige geht schon am Stock und darf sich daher ihre Weisheit und ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung bewahren. Nadja dagegen demonstriert dem Begatter ihre sklavische Ergebenheit, indem sie des Professors höchst wertvolle Bibliothek russischer Erstausgaben zerstört.

Nicht so tragisch. Der Literaturwissenschaftler hatte sich ohnehin abfällig gegenüber Tolstoi&Co. geäußert: «Die reine Langeweile; Turgenjew ist der Schlimmste!« Mit dieser richtigen Einschätzung und einigen anderen ironischen Bonmots kann Jochen Kuhl punkten, ansonsten muss er sich mit einer unterbelichteten Rolle abfinden. Noch schlimmer sind seine Kolleginnen dran, denn sie stellen nur willige Objekte dar. Elke Wollmann, ausgestattet mit mehr Text als Textilien, versucht ihren Part zu differenzieren. Aber wenn frau unten ohne im scheußlichen St.-Louis-Hemd über die Bühne hüpft, dann sind alle mimischen Anstrengungen für die Katz’.

Wer hat diesen Schlag gegen die weibliche Würde inszeniert? Stefan Otteni, der zuvor viel Gutes am Nürnberger Schauspiel tat («Professor Bernhardi« zum Beispiel). Auch im «Besuch bei dem Vater« stehen dem Regisseur viele originelle aber auch unappetitliche Einfälle und manches eindrückliche Bild zu Gebote. Wenn es einen starken Spielleiter auszeichnet, die Darsteller zu Exhibition und sinnlosen Handlungen zu treiben, dann hat Otteni Großes geleistet - vor allem bei Jan Ole Sroka.

Dessen freizügige körperliche Präsenz wollen wir anerkennen. Peters verbale Potenz hat uns weniger ergriffen, sie beschränkt sich im Wesentlichen auf: «Du willst es doch! Du weißt, dass du es willst!« Das scheint auf Frauen zu wirken. Zumindest in schlechten Theaterstücken.Hans-Peter Klatt

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