Bernsteine am Ostseestrand sind Schätze im Schlick

1.2.2020, 07:52 Uhr
Bernsteine am Ostseestrand sind Schätze im Schlick

© Stefan Sauer/dpa

Bernsteinfischer wie Henry Engels lieben heftige Unwetter. Sie sind genau dann, wenn man keinen Hund vor die Tür jagt, bereits nachts unterwegs, um knietief in der Brandung zu stehen – ausgerüstet mit Stirnlampe, Gummistiefeln, Wathosen und Keschern. Kälte spüren sie nicht, das Adrenalin heizt sie derart auf, dass sie getrieben wie Süchtige, stundenlang umherstaksen, um die Wasseroberfläche abzufischen.

Der Sturm hat den Meeresboden aufgewühlt und Bernsteinstücke im Wasser nach oben geschleudert. Die verfangen sich in herumschwimmendem Algengestrüpp und werden im Intervall der Wellen mit Keschern herausgefischt. Die jeweilige Fuhre aus Seegras, Holz und Muscheln wird im Sand ausgekippt und akribisch durchsucht. Die ergiebigste und beliebteste Strecke ist der Weststrand von Hiddensee, beginnend hinterm Heimatmuseum von Kloster bis zum Ortsausgang von Vitte.

Henry schiebt mit der rechten Hand seine Brille die Nase hinauf, fährt sich mit der linken durch die dichten, grauen Haare: "Wenn Vater wüsste, dass ich von seinem Hobby leben kann!", ruft er stolz. Der Senior, der in den 1950er Jahren anfing, auf der Insel regelmäßig Bernstein zu sammeln, um daraus Schmuck herzustellen, hatte es nicht mehr erlebt, wie sein Jüngster in Kloster seine Bernsteinwerkstatt eröffnete.

Dort funkeln Ohrringe, Ketten, Broschen, kleine Kunstwerke mit alten Eichenstücken, Sanddorn und Ginster verziert. Was er hinten in seiner Werkstatt herstellt, wird vorn im Laden von seiner Frau verkauft, die die Unikate mit Charme und fundiertem Wissen anpreist.

Der Zufall brachte erste Funde

In Kloster begann im vorigen Jahrhundert ein Bernsteinrevival. Eigentlich zufällig: Durch das Aufbaggern und Aufwühlen des Meeresbodens bei Ausbau des Hafens tauchten plötzlich mehr Steine als je zuvor an der Meeresoberfläche auf. Die Alten erinnerten sich nun wieder, dass Hiddensee früher auch Bernsteinland hieß.

Man erzählt sich immer noch, dass im Jahr 1805 die Bewohner von Neuendorf ganz im Süden der Insel Sammlern per Vertrag Erlaubnis erteilten, Bernsteine am Strand zu suchen – gegen Bezahlung selbstverständlich. In jener Zeit war die Bernsteinfischerei einträglicher als der Fischfang.

Bernsteine am Ostseestrand sind Schätze im Schlick

© Stefan Sauer/dpa

Kloster präsentiert in seinem Heimatmuseum die Geschichte des Bernsteins von Hiddensee samt spektakulärer Funde. Vater Engels sei Dank, der anfing, neben seinem Job als Hausmeister der seltenen Steinfischerei nachzugehen.

Im Nachbarort Vitte wohnt Henrys ältester Bruder Ingolf, der fischt ebenfalls Bernsteine und stellt Schmuck und Skulpturen her. Die Brüder (Henry ist 52 und Ingolf vierzehn Jahre älter), sind zwei von zehn Geschwistern, die von Vater Engels bereits als Kinder auf die Touren mitgenommen wurden, doch nur die beiden Jungs haben die Leidenschaft des Seniors geerbt. "Es macht immer noch Spaß", sagt Ingo, der kauzige Typ mit dem Wetter gegerbten, faltigen Gesicht. Mehr als 200 Kilo fossiles Harz hat er in seinem Leben aus der Ostsee geholt.

Er will mehr. Und mehr ist auch drin. In der Ostsee – einst war hier ein riesiger Wald – lagern noch unzählige der kostbaren Steine. Es handelt sich um Baumharz, das vor vierzig bis sechzig Millionen Jahren aus den Wunden von Kiefern und anderen Nadelhölzern ausgetreten und an der Luft ausgehärtet ist. Gewaltige Mengen davon sanken in tiefe Sedimentschichten hinab, wo sie von Sand, Staub und neu gebildeten Gesteinsschichten zugeschüttet wurden. Unter Luftabschluss und Druck wurden sie schließlich zu Bernstein.

Der baltische Bernstein, den man auf Hiddensee findet, ist meist dunkelgelb und orange. Irgendwie passt das auch zur Farbe der Insel, auf der im Frühling der Ginster grellgelb blüht und im Herbst die reifen Sanddornbeeren im satten Orange leuchten.

Wer einen Bernstein findet und sich unsicher ist, ob es vielleicht doch ein Kiesel oder eine Glaskrume ist, kommt zu Ingolf. "Es kursieren ja die unterschiedlichsten Vorschläge zur Prüfung", erzählt er, "von Draufbeißen bis elektrostatisch Aufladen". Sicherer sei es, den Stein auf den Boden eines Glases mit Leitungswasser zu legen und drei Teelöffel Salz darin aufzulösen. Ist es ein Bernstein, steigt er auf, getragen vom Salzgehalt des Wassers. Was Ingolf mit folgendem Satz kommentiert: "Ach, hätte die Ostsee einen Salzgehalt von 40 Prozent, würde alles oben schwimmen und ich wäre Millionär."

Mehr Informationen:
Hiddensee-Information
www.seebad-hiddensee.de
Anreise:
Mit dem Auto knapp sieben Stunden und gut 700 Kilometer nach Stralsund, weiter mit der Fähre mehr als zwei Stunden nach Vitte.
Mit dem Zug knapp sieben Stunden nach Stralsund, weiter mit der Fähre.
Mit dem Bus ungefähr elf Stunden nach Stralsund.
Komfortabel wohnen:
Hotel Hitthim
www.hitthim.de
Günstig wohnen:
Hotel Enddorn
www.enddorn.de
Beste Reisezeit:
Um Bernstein zu fischen und zu finden: Januar bis April.

Redaktioneller Hinweis:
Die Recherche für manche Artikel in dieser Ausgabe wurde von Reiseveranstaltern, Hotels, Fluglinien oder Tourismusverbänden unterstützt. ​Informationen des Umweltbundesamts über die Möglichkeit, den CO₂-Ausstoß Ihrer Reise zu kompensieren:
www.umweltbundesamt.de/themen/freiwillige-co2-kompensation

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