Raus aus dem Alltagsstress

Minireise um die Ecke: Heute baden wir in unserem Wald

19.11.2020, 15:03 Uhr
Was gibt´s Schöneres als ein herbstlicher Ausflug mit der Familie in den bunten Wald - hier bei Pommelsbrunn im Kreis Nürnberger Land.

© Matthias Niese Was gibt´s Schöneres als ein herbstlicher Ausflug mit der Familie in den bunten Wald - hier bei Pommelsbrunn im Kreis Nürnberger Land.

Während ich in die Pedale meines Fahrrads trete, überholt mich – hoch am Himmel über mir – eine Schar von wilden Schnattergänsen. Was von unten so gemütlich aussieht, ist bei dem kalten Wind da oben sicher gar nicht einfach. Dennoch, denke ich mir, geht es den Vögeln sicher gut. Ein bisschen neidisch bin ich auf sie. Können sie doch kreuz und quer durch Deutschland und Europa fliegen, um am Ende irgendwo in Spanien oder Nordafrika einen coolen Winterbadeurlaub zu verbringen. Ohne Quarantäne, Tests und Masken.

Ich aber fahre heute in den Wald. Nur ein paar Minuten von zu Hause, liegt er unweit von der Innenstadt entfernt. Eine Reise dorthin gilt deshalb für mich als nicht-touristisch und ist selbst in härtesten Corona-Zeiten nicht verboten. Kurz vor der Gartenkolonie hört der Asphaltweg auf und wird zum Trampelpfad. Ich holpere mit meinem Rad darüber, an einem Zaun entlang. Dann fängt schon das Baumland an. Ein paar Sonnenstrahlen stehlen sich durchs Grau der Wolken.

Alle Farben mischen sich in die Bäume

Zwischen das Grün der Bäume mischen sich Gelb-, Orange- und Brauntöne. Auch die roten Tupfer von Hagebutten und anderen Beeren sind dabei. Trockenes Laub raschelt deutlich hörbar unter meinen Reifen und den Füßen der paar Wanderer, die mir entgegenkommen. Wo es feucht ist, sind die Geräusche eher leise, schnalzend – so, als rollte ich mit meinem Rad über eine weiche Gummimatte.

Ich steige ab und schiebe. Eicheln knacken unter meinen Füßen. Die Lust auf kleine Abenteuer schärft meine Sinne ebenso wie das Verlangen, mich im Freien zu bewegen und alles, was die wunderbare Herbstnatur zu bieten hat, in vollen Zügen zu genießen. Ich stelle das Fahrrad weg und hole Luft – so intensiv und tief, bis sie meine Lunge und meinen ganzen Körper füllt.

Auch der Duft von Pilzen liegt jetzt in der Waldluft.

Auch der Duft von Pilzen liegt jetzt in der Waldluft. © Wolfgang Kumm, dpa

Und so wie man beim Verkosten eine edle Speise oder Flüssigkeit so lange wie es geht im Mund behält, versuche ich, die frische, kühle Waldluft möglichst in mir festzuhalten, um jedes ihrer einzelnen Aromen aufzuspüren. Ich rieche Holz und Pilze, feuchte Erde, Gras und Harz. Doch da ist so viel mehr! Noch einmal und noch einmal pumpt sich mein Brustkorb auf. Der Wald strömt dabei wie ein Elixier durch meinen Körper – in jede Zelle, bis in die Finger- und die Zehenspitzen. Mit jedem Atemzug scheint er den Stadtmief aus mir zu verdrängen. Ich fühle mich wie innerlich gereinigt.

Der Wald wirkt tatsächlich positiv auf uns – und zwar körperlich genauso wie auch seelisch. Das Wissen darum ist in jeder Volksheilkunde fest verankert. Er lässt uns zur Ruhe kommen, weitet die Seele. Erst seit wenigen Jahrzehnten gibt es Vermutungen, warum die Waldluft so gesund sein soll. Grund seien die Terpene – Duftstoffe, die Pflanzen absondern, mit denen sie kommunizieren, aber auch Tiere anlocken, täuschen oder auf Abstand halten.

Als Bestandteil ätherischer Öle schweben sie in Form von feinsten Tröpfchen durch den Wald – am höchsten konzentriert bei Sommernebel oder -regen unter Nadelbäumen. Doch selbst die geringen Mengen eines winterlichen Laubwalds wirken heilsam und beruhigend. Durch Nase, Mund und Haut gelangen die Terpene in unseren Organismus, sollen unter anderem den Blutdruck senken, Stress reduzieren, Glückshormone anregen und das Immunsystem stärken.

Maßgeblich forciert hat diese Geschichte von der Heilkraft der Natur der japanische Professor Qing Li. Aus seinen Forschungen in den 1980er-Jahren schuf er sein Wissenschaftsgebiet, das weltweit immer populärer wird: die Waldmedizin. Ihre Aussagen sind populär, stoßen allerdings auf Kritik von Naturwissenschaftlern, weil diese die Annahmen für wenig wissenschaftlich halten.

Bei Pommelsbrunn geht es mitten im Wald hinauf auf alte Jurakalk-Felsen - hier oben hatten die Kelten einst eine Burg, den Wall kann man noch sehen.

Bei Pommelsbrunn geht es mitten im Wald hinauf auf alte Jurakalk-Felsen - hier oben hatten die Kelten einst eine Burg, den Wall kann man noch sehen. © Matthias Niese, NN

Ihre wichtigste Therapieform ist das so genannte Waldbaden, im Original mit den drei Silben shin (großer Wald) rin (kleiner Wald) und yoku (Baden) beschrieben. Im Wesentlichen geht es dabei um einen mehrstündigen, ruhigen Aufenthalt im Wald, der mit verschiedenen Achtsamkeits- und Entspannungsübungen verbunden wird.

Dreh- und Angelpunkt ist die bewusste Atmung. An einer Stelle sitzen oder stehen, barfuß laufen oder Pflanzen mit den Händen zu berühren, sind beliebte Praktiken, um die Umgebung gründlich wahrzunehmen und auf sich wirken zu lassen. Das Tempo ist wie der Bewegungsradius relativ gering. Mittlerweile ist Waldbaden fast so weit verbreitet wie Zumba-Kurse oder Nordic Walking und gehört in allen Urlaubsdestinationen, wo Bäume stehen, zum Wellnessangebot.

Mein schönstes Waldbadeerlebnis war als solches nicht geplant. Ich hatte es bei einer Wanderung, bei der es nicht um Kilometer oder Attraktionen ging. Sie war sehr langsam, intensiv, besonders. Weder Sinne noch Verstand kamen zu kurz dabei. Immer, wenn es etwas Neues zu sehen, hören, riechen, schmecken oder anzufassen gab, nahmen wir uns Zeit dafür.

Mit Winterschlafverweigerern auf Augenhöhe

Bei jener Wanderung lagen wir bäuchlings auf der Wiese vor wilden Orchideen, um ihren Blütenstand samt fliegender und krabbelnder Besucher aus deren Perspektive zu betrachten. Ein klitzekleiner Käfer dort hatte offenbar noch keine Lust auf Winterschlaf. Fast reglos aalte er sich in der Novembersonne am grünen Ufer eines dicken Tropfens Morgentau auf einem Grashalm. Je länger ich die stille Szenerie betrachtete, desto mehr gewöhne ich mich an die zwergenhaften Proportionen. Das Insekt hatte plötzlich ein Gesicht. Das Gras bekam unterschiedlich breite Fasern.

Die frische Luft macht hungrig. Zum Glück hatten wir ein bisschen Proviant dabei, verdrückten eine Stulle und einen Apfel. Das schmeckte hier draußen doppelt gut. Ich lümmelte faul herum und fühlte mich wirklich fast wie in einer Badewanne.

Strahlt unendliche Ruhe aus: Ein herbstlicher Laubwald im Nebel.

Strahlt unendliche Ruhe aus: Ein herbstlicher Laubwald im Nebel. © Jan Eifert via www.imago-images.de, imago images/Jan Eifert

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