Stöbern im Sand der Themse

2.12.2016, 18:00 Uhr
Stöbern im Sand der Themse

© Thomas Fluegge

Das Interessanteste, was wir finden werden, ist bestimmt eine rostige Cola-Dose" unkt Jake, ein Mittvierziger mit Wikinger-Optik, als unsere Gruppe von fünf Mudlarking-Neulingen in Gummistiefeln die glitschigen Stufen zum Themse-Ufer hinuntersteigt. "Dödel", denke ich, "dann bleib doch zuhause und wühl durch die Mülltonnen in deinem Hinterhof". Suchen und sammeln, so viel steht für mich fest, sind ernste Angelegenheiten. Ich will etwas Besonderes entdecken, gern von historischer Bedeutung, vielleicht museumsreif. Wer mangelnden Eifer zeigt, ist mir suspekt.

Es ist ein leicht bewölkter Vormittag. Genau richtig, wie unsere Führerin Gesine Garz erfreut bemerkt. Die Fundstücke, nach denen wir zwischen Geröll, Sand und Schlick Ausschau halten, sind bei diesen Lichtverhältnissen am besten aufzuspüren. Gleißender Sonnenschein strengt die Augen zu sehr an, Konturen verwischen, man übersieht leicht etwas.

Stöbern im Sand der Themse

© Thomas Fluegge

"Konzentriert Euch auf Formen, Strukturen und Farben, die sich vom Untergrund abheben", rät Gesine. Seit 21 Jahren lebt die gebürtige Uelzenerin als Goldschmiedin und Fotografin in England. Durch einen befreundeten Archäologen entdeckte sie ihre Leidenschaft fürs "Mudlarking", das Stöbern im Uferschlamm. Immerhin hat London eine über 2000-jährige Geschichte, die viele Spuren am Themsestrand hinterlassen hat.

Wir schwärmen aus, links und rechts unter der Southwark Bridge. Hier am Nordufer hat man die besten Chancen, etwas zu entdecken. Die Umgebung ist der am längsten besiedelte Fleck der Stadt. Über Jahrhunderte reihten sich Anleger für Fähren und Handelsschiffe aneinander, dazu Werften, Handwerksbetriebe und Gasthäuser, alles etwa zwischen der heutigen Blackfriars Bridge im Westen und dem Londoner Tower im Osten. Die Themse war nicht nur Transportweg, sondern auch Müllabfuhr. Was immer die Menschen loswerden wollten, wurde einfach in den Fluss gekippt - sehr zur Freude der Strandsucher heute.

Junkies bei der Arbeit

Jake, der sich beim Treffen der Gruppe an der U-Bahn-Station Mansion House als Biologielehrer vorgestellt hatte, hängt sich an Gesine. Was für ein Streber! Ich versuche mein Glück auf eigene Faust. Was habe ich nicht schon alles gesammelt: die Gehäuse exotischer Meeresschnecken in Indonesien, angespülte Korallenstücke auf Curaçao, Amethyst-Kristalle in Kanada, Fossilien an der Ostsee, rote Feuersteine auf Helgoland. Das Aufspüren von Fundstücken hat einfach Suchtpotential und ich bin längst Junkie.

Schon nach wenigen Schritten im knirschenden Kies sticht mir etwas ins Auge: Eine pflaumengroße blau-weiß glasierte Scherbe, auf der ich eine Blumenranke erkenne. Ich lasse meinen Blick um meine Füße schweifen. Da! Schon entdecke ich ein ähnliches Stück, diesmal mit verschlungenen kleinen Rauten. Und dann noch eines und noch eines. Ein gutes Gefühl, etwas im Sammelbeutel klimpern zu haben. Selbst wenn es nichts Spektakuläres ist, wie ich später erfahre. Bruchstücke von viktorianischem Porzellan, also aus dem 19. Jahrhundert, sind so ziemlich die häufigsten Fundstücke - und oft schön.

Auf dem Fluss herrscht reger Betrieb: Fähren und Ausflugsboote pflügen vorüber, ihr Kielwasser lässt sanfte Wellen ans Ufer schwappen. Lautsprecheransagen schallen heran, doch so wirklich dringt mir nichts davon ins Bewusstsein - geradezu meditativ bin ich in die Suche versunken. Und die anderen, so scheint es, auch.

Zigaretten vergangener Jahrhunderte

Plötzlich schnattern Margaret und Lester, ein Rentnerpaar aus Winchester, ganz aufgeregt: Ihr 13-jähriger Enkel Simon hat einen großen braunen Knochen aus dem Geröll gezerrt. Der Unterkiefer eines Pferdes, wie Gesine sofort erkennt. Sogar ein paar Zähne stecken noch drin. "Auch verendete Tiere wurden im Mittelalter hier in der Themse entsorgt". Richtig begeistert ist Oma Margaret nicht, dass Simon den Brocken mitnehmen will - aber was muss, das muss.

Langsam bewegen wir uns am Ufer entlang, Quadratmeter für Quadratmeter werden gründlich inspiziert, zuweilen auf allen Vieren. Direkt unter der Millennium Bridge ist der Themse-Strand übersät mit weißen Röhrchen und kleinen gewölbten Scherben. "Das waren die Zigaretten vergangener Jahrhunderte - Tonpfeifen", erklärt Gesine. "Man findet welche aus der Zeit ab etwa 1580, als der Tabak zum ersten Mal aus Amerika nach Europa importiert wurde, bis Anfang des 20. Jahrhunderts."

Die Stunden verfliegen. Wir entdecken Tonziegel aus der Tudor-Zeit im 16. Jahrhundert, viele noch mit den Löchern für die Nägel zur Befestigung auf den Dächern. Jake, unser Schlaumeier, zupft an etwas im Uferschlamm herum. Man spürt, zu gerne würde er mit einem Taschenmesser nachhelfen. Aber das ist strikt verboten.

"Eyes only" lautet die Devise. Gesammelt werden darf nur, was mit bloßem Auge auf dem Themsestrand zu sehen ist und allein mit den Händen geborgen werden kann. Grabwerkzeug oder Metalldetektoren verwenden nur lizensierte Sammler. Endlich zieht Jake etwas bunt-schillerndes heraus. Wir treten neugierig näher. Irisierendes Glas, ein rundes Flaschensiegel mit einem Frauenkopf und der verschlungenen Jahreszahl 1731. "Ein toller Fund", so die Expertin, "das gehörte mal zu einer Weinflasche. Könnte man schön in Form schleifen und als Anhänger in Silber fassen."

Ein Lederschuh aus römischer Zeit

Langsam steigt der Pegel der Themse. Als Gezeitenfluss variiert ihr Wasserstand zwischen Ebbe und Flut um bis zu sieben Meter. Das wühlt zwar immer schön den Flussgrund auf und spült neue Funde nach oben. Es bedeutet aber, dass man rechtzeitig den Rückzug antreten muss und immer die nächste Treppe an der Ufermauer im Blick haben sollte. Auch unsere Schatzsuche findet damit ein zwangsläufiges Ende.

Auf dem Hinweg zur Themse hatte Gesine über die Geschichte des Mudlarkings geplaudert. Etwa vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert suchten vornehmlich die Kinder der ärmsten Londoner das Flussufer nach Strandgut ab, um es für ein paar Pennies zu verkaufen: Kohle, Metall, Seile, Knochen, Brennholz. Dagegen ist die heutige Sammellust purer Luxus.

Was war eigentlich dein wertvollster Fund? Gesine lacht: "Nichts von materiellem Wert. Ein Lederschuh aus römischer Zeit. Der Schlamm hatte ihn luftdicht verschlossen und so über die Jahrtausende konserviert." Jetzt ist das gute Stück restauriert im Museum of London zu sehen.

Mehr Informationen

Organisierte Mudlarking-Führungen mit einer Archäologin bietet "London Walks" an.
www.walks.com

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