Lebensgefährlicher Sog am Bahnsteig

7.3.2011, 00:00 Uhr
Lebensgefährlicher Sog am Bahnsteig

© Irene Lenk

Der Fall erregte bayernweit Aufsehen: Am 30. Juli 2010 wird am Bahnhof Forchheim ein junger Mann von einem ICE erfasst und stirbt. Augenzeugen gab es nicht, doch die Ermittlungen deuten darauf hin, dass der 24-Jährige am späten Abend vom Luftwirbel der vorbeirauschenden Waggons erfasst und dann vom Zug getötet worden ist.

Dabei mag Unachtsamkeit eine Rolle gespielt haben. Das Opfer hatte die Zeit zuvor mit Kollegen den Abschluss seiner Meisterprüfung gefeiert. Doch eine drängende Frage bleibt bis heute: Genügt es, an den Bahnsteigen Hinweisschilder anzubringen und 80 Zentimeter von der Kante entfernt einen weißen Strich zu ziehen? Denn zu Unglücken wie in Forchheim kommt es immer wieder.

18 Todesfälle

Wie eine Sprecherin auf Anfrage bestätigt, sind 54 Vorfälle in den Computern der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes für den Zeitraum der Jahre 2006 bis 2010 gespeichert. Darunter auch Ereignisse in Roth, Heilsbronn oder Pegnitz. Insgesamt 18-mal kamen dabei Menschen zu Tode. Auch wenn noch nicht alle Fälle zweifelsfrei geklärt sind: Oft genug ist wohl tatsächlich die Sogwirkung von durchfahrenden Zügen Ursache dafür, dass Wartende mitgerissen, verletzt oder gar getötet werden.

Jeder Zug schiebt komprimierte Luft vor sich her, und vor allem zwischen einzelnen Waggons bilden sich starke Wirbel. Noch gefährlicher als die relativ windschnittigen ICE sind dabei die Güterzüge. Immer wieder kam es zu schweren Unfällen: Im April 2010 wurde in Brackwede bei Bielefeld ein Mann von den Beinen gerissen und am Kopf verletzt. Vor rund vier Wochen wurden zwei Bahnarbeiter Nahe Hannover am Gleis offenbar vom Luftstrom eines Güterzugs angesaugt, einer von ihnen starb.

Immer wieder werden auch Kinderwagen vom Bahnsteig auf die Gleise gezogen, so geschehen am 2. März 2007 in Lüneburg. Kurz zuvor hatte die Mutter ihr Baby glücklicherweise herausgenommen. Und manchmal genügt wohl auch allein der Schreck vor dem vorbeirasenden Zug, damit es zur Tragödie kommt, so wie im Dezember 2010 im brandenburgischen Wünsdorf. Dort machte eine 15-Jährige auf dem schmalen Bahnsteig erschrocken ein paar schnelle Schritte rückwärts, als ein Personenzug mit Tempo 120 durch den Bahnhof fuhr — und wurde auf der anderen Bahnsteigseite von einem Vogtland-Express erfasst.

Gefahr wird nicht erkannt

Für Hartmut Buyken vom Fahrgastverbands Pro Bahn ist jeder einzelne Fall ein Beleg dafür, dass die Deutsche Bahn mehr für die Sicherheit der Wartenden tun müsste. Die weiße Linie und auch die Schilder würden oft genug gar nicht als Warnung erkannt, so Buyken. Gerade junge Menschen seien sich schlicht der Gefahr an Bahnsteigen nicht mehr bewusst und würden sorglos auch die weiße Linie überschreiten. „Lautsprecherdurchsagen und optische Signale wären wirklich gut“. Doch Lautsprecher muss es laut der maßgeblichen Eisenbahnbau- und Betriebsordnung (EBO) nur dort geben, wo Züge mit mehr als 160 Stundenkilometern durchfahren. Das ist in Forchheim und auf den meisten Bahnhöfen der Region nicht der Fall.

Nur bei Tempo 200

Nur da, wo Züge mit 200 Stundenkilometern und mehr unterwegs sind, muss die Bahn dafür sorgen, dass der Gefahrenbereich zusätzlich abgesperrt ist. „Die Bahn ist nur verpflichtet, diese Mindestanforderungen zu gewährleisten“, sagt die Sprecherin des Eisenbahnbundesamts. Selbstverständlich hat „der Betreiber der Stationen aber die Freiheit, selbstständig zusätzliche Sicherungsmaßnahmen durchzuführen“. Flächendeckende Durchsagen, wie sie Pro Bahn fordert, würden jedoch viel Geld kosten. Und die Lautsprecher allein nützen auch nichts. „Oft fehlt vor Ort das Personal, um solche Ansagen machen zu können“, sagt ein Bahnsprecher. Die DB habe die Gefahr aber dennoch im Blick: An 500 Bahnhöfen in ganz Deutschland werden die Flächen zwischen den weißen Linien und den Bahnsteigkanten mit zusätzlichen Schraffuren versehen.

Auch sollen — nicht etwa aus Eigenmitteln, sondern dank des Konjunkturprogramms des Bundes — an 1700 Stationen dynamische Schriftanzeiger installiert werden, mit denen die Reisenden sicht- und hörbar auch auf durchfahrende Züge aufmerksam gemacht werden können. Wenn dann allerdings nur in allgemeiner Form und in einem Zeitabstand, der sich nicht am aktuellen Fahrplan orientiert. Und eben nicht überall: 5400 Bahnhöfe und Haltestellen gibt es in ganz Deutschland.

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