Alleinsein – und wie man damit fertig wird

18.11.2008, 00:00 Uhr

Das Problem hat sich vervielfacht

Mit der massenhaften Nutzung des Internets hat sich in jüngster Zeit das Problem des Alleinseins vervielfacht. Es ist ein Indiz dafür, dass die Gesellschaft mit der von ihr geforderten «Ent-bindung» in wachsendem Umfang leidende Menschen produziert, die mit ihren Leiden in den psychotherapeutischen Praxen auftauchen. Arbeitsplatzverlust kann Vereinsamungsangst verursachen. Die Isolierung äußert sich als soziale Phobie. Das Selbstbewusstsein schwindet, oft verbunden mit ohnmächtiger Wut und dem Gefühl, betrogen zu sein.

Auch die Überalterung der Gesellschaft ist ein Faktor. Die Psychologin Gabriele Junkers in Bremen hat sich mit der Frage befasst, wie schon früh im Leben etwas entstehen kann, was später im Alter die Fähigkeit zum Alleinsein begünstigt. Allein sein zu können, könnte eine Art Reifeprüfung für das Älterwerden sein.

Als Beispiel, wie die Einsamkeit im Alter gemeistert werden kann, nennt sie eine Patientin, die vor zehn Jahren, 70-jährig, ihren 84-jährigen Mann verlor und heute fast völlig erblindet auf dem Lande lebt, räumlich isoliert von Freunden und Kindern. Sie hat den Kalender ihrer Großfamilie ganz und gar im Kopf, sie telefoniert zu festgelegten Zeiten mit ihnen. Sie hört gezielt Radio und Hörbücher. Sie ist, sagt sie, mit ihrem heutigen Leben nach der Überwindung der «Kinderkrankheiten des Älterwerdens» sehr zufrieden.

Bei Jugendlichen hingegen können Subkulturen wie Gothics, Punks und «Schwermetaller» eine wichtige Rolle spielen, wenn es um die Überwindung einer sozialen Phobie oder Angststörung geht, wie die Ärztin Sylvia Kipp aus Ostfildern schildert. Sie hat anhand der Behandlung von weiblichen Jugendlichen die Erkenntnis gewonnen, dass Gruppen dieser Art, die oft in offener Opposition zur Mehrheitsgesellschaft stehen, in der Phase der Identitätssuche einen Schutzraum bieten. Ebenso wirken sie wie ein Gegenmodell zu zunehmender Vereinzelung und Vereinsamung, indem sie dem Bindungsbedürfnis auf jeweils spezifische Art Rechnung tragen.

Körperkult als falscher Ausweg

Als scheinbarer Ausweg aus dem Dilemma von Bindungsbedürfnis und Bindungsangst erscheint zuweilen auch die negative Hinwendung zum eigenen Körper, die sich in Ess- Störungen und Selbstverletzungen äußert. Der Körper wird zum Objekt, das die Illusion von Beziehung und ihrer Beherrschbarkeit verschafft. Der Psychotherapeut Mathias Hirsch sagt, dies korrespondiere mit der «Idolisierung des Körpers» – von der Fitness über den Gesundheitskult bis zur Schönheitschirurgie.

Die Therapeutin Karin A. Dittrich aus München hat im Gegensatz zur allseitig beklagten «Ent-bindung» durch die neuen Medien an einem schwer traumatisierten 38-jährigen Patienten erlebt, dass der Gebrauch des Internets als zwischenmenschliches Kommunikationsmittel Hilfe bieten kann. Dieser Fall kann illustrieren, wie das Leid über vorsichtigen Austausch bis hin zu direkter Konfrontation durch den anderen schließlich verändert und bewältigt wird.

Manche Menschen haben aber «von Haus aus» keine Probleme mit dem (zeitweisen) Alleinsein. Ein herausragendes Beispiel für die positive Wirkung von Einsamkeit ist der spanische Maler Pablo Picasso (1881-1973), der am Ende seines Lebens sagte: «Ohne Einsamkeit kann nichts entstehen. Ich habe mir eine Einsamkeit geschaffen, von der niemand weiß.» Rudolf Grimm, dpa

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