Eine Sandwüste wurde zum Lebensmittelpunkt

11.7.2012, 10:56 Uhr
Eine Sandwüste wurde zum Lebensmittelpunkt

© Illustration: Ramona Binner und Lena Bock

Annelies Engl ist überzeugt, dass ihr das Spatzenpaar schon seit Jahren die Treue hält. Allerdings haben sie und ihr Mann Karl in ihren 55 Jahren als Hobbygärtner schon viele Vogelgenerationen kommen und gehen sehen. Doch für jeden einzelnen Vogel, der die Engls besucht hat in diesem halben Jahrhundert, haben sie immer ein paar Brot- oder Kuchenkrumen und Wasser für die Vogeltränke übrig gehabt – Sommers wie Winters, Tag für Tag, montags bis sonntags.

Als Annelies und Karl Engl im Frühjahr 1957 am Kuhweiherweg ihre ersten Radieschen anpflanzten, da waren um sie herum nur Sandwüste, Wald und ein Bach, der zum Kanal führte. Der Bach, der den Engls in den ersten Jahren als Nährstofflieferant für ihr Gemüse diente, ist inzwischen längst trockengelegt. Denn nicht nur die Stadt um sie herum wuchs immer weiter, auch die Kleingärtner wurden immer mehr. Heute, 55 Jahre später, zählen die Kolonien Ideal e.V. und Kuhweiher e.V. in Röthenbach 370 Gärten auf 172.000 Quadratmetern Fläche.

Hier zählt das Wort noch mehr als ein Maschendrahtzaun

Als Gründungsmitglieder dieser Kolonien sehen sich die beiden 86-Jährigen allerdings nicht. „Das ist halt so gewachsen“, sagt Karl Engl bescheiden, der sein Leben lang auf einem Schrotthof gearbeitet hat. Auch, wenn die Engls in über fünf Jahrzehnten viele verschiedene Nachbarn hatten, fühlen sie sich nach wie vor wohl auf ihrem 300 Quadratmeter großen Grundstück.

Auf einen Gartenzaun zu den Nachbargrundstücken verzichten sie bis heute. Hier zählt das Wort noch mehr als ein Maschendrahtzaun, der klare Grenzen setzt. „Die Nachbarn haben immer zu uns gepasst“, sagt der 86-Jährige zufrieden. „Brotlose Schnabbler gibt es hier zum Glück nicht“, merkt seine Frau an.

Eine Sandwüste wurde zum Lebensmittelpunkt

© Illustration: Ramona Binner und Lena Bock

Brotlose Schnabbler, das sind solche, die mit ihren großen Ernteerfolgen prahlen – oder die vornerum nett tun und dann schlecht über einen reden, sobald man sich umgedreht hat. „Solche haben wir genug in der Gegend, in der wir wohnen“, sagt sie. Auch in ihrer Zeit als Kellnerin und Haushälterin, so erzählt Annelies Karl, habe sie viele dieser Schnabbler bedienen und umsorgen müssen. Deswegen ist sie dann mit Mitte 20 Briefträgerin geworden. „Das war eine schöne Arbeit.“

Karl Engl fährt noch täglich mit dem Fahrrad von Gebersdorf nach Eibach. Seine Frau fährt mit dem Bus. „Nur, wenn’s ihr nicht gut geht, nehmen wir beide den Bus“, sagt er und tätschelt liebevoll die Hand seiner Frau. Sommers wie Winters verbringt das Ehepaar, das seit 58 Jahren verheiratet ist, den Tag über in ihrem Garten. Von Montag bis Freitag wird Unkraut gejätet, werden Schnecken vom Beet abgelesen, wird gegossen und junges Gemüse ins Frühbeet gesetzt. „Aber Samstag und Sonntag ist Ruhetag. Da wird nichts gemacht“, gibt sich Karl Engl entschlossen.

„Am Sonntag ist immer großer Besuchstag bei uns im Garten“, freut sich Annelies Engl. Dann kommen die drei Söhne mit Familie vorbei. Die sind jetzt auch schon 55, 58 und 59 Jahre alt und haben selbst Kinder. Vor 50 Jahren haben sie an heißen Sommertagen immer in dem kleinen Betonbecken geplanscht, in dem bis heute das Regenwasser aufgefangen wird. „Als unser erster Sohn ein paar Jahre alt war, haben wir beschlossen, uns einen Garten anzulegen“, erzählen die Engls. Oft seien sie mit dem Kinderwagen am Kanal entlang spaziert, vorbei an der öden Sandwüste, wo heute Radieschen, Zwiebeln und Lavendel gedeihen. „Die Kinder sollten etwas Grünes um sich haben“, sagt Karl Engl. Das war früher so und ist auch heute noch der Grund für viele Familien, einen Kleingarten zu pachten.

Schnickschnack leisten sich die Engls in ihrem Garten nicht. Neben dem Eingang blühen Rosen und Nelken. Ein japanischer Ahorn ist der einzige Exot in ihrem Garten. Im Gemüsebeet wachsen Tomaten, Kohlrabi, Zuckerhut – ein Salat, der auch Romana genannt wird – und Erbsen. Die Kartoffeln, die gerade zu blühen beginnen, haben sie sich aus dem Supermarkt geholt. „Mit denen von Aldi hatten wir noch nie Ärger.“

Eine Sandwüste wurde zum Lebensmittelpunkt

© Illustration: Ramona Binner und Lena Bock

Nichts wird weggeschmissen: Kaputte Salatköpfe oder faule Zwiebeln kommen auf den Kompost, der wiederum als wertvoller Dünger in die Erde untergemischt wird. Selbst den Biomüll nehmen Annelies und Karl Engl jeden Tag von Zuhause mit. „Komposthaufenerde ist wertvoll. Besser als jeder Dünger“, schwärmt der 86-Jährige. Früher hatten sie viel Rettich angebaut. „Mittlerweile liegen die uns zu schwer im Bauch.“

Zwei Katastrophen hat das Ehepaar in seiner Zeit als Kleingärtner erlebt. Das war etwa 1970, als ein Frühjahrssturm alle Setzlinge an den Zaun gefegt hat. Und 1986 bei der Atomkatastrophe von Tschernobyl. „Da mussten wir alles Obst und Gemüse in Säcke packen und zur Verbrennungsanlage karren“, erinnert sich Karl Engl.

Wenn einmal eine Ernte nicht gut ausfällt, schieben sie es nicht dem Klimawandel oder einem nassen Frühjahr in die Schuhe. „Wie gut die Ernte ist liegt am Gärtner selbst“, sagt der 86-Jährige. „Jede Pflanze muss gehegt und gepflegt werden.“ Diese Tipps geben sie auch den Nachbarn, wenn sie Hilfe brauchen. „Ab und zu kommen Leute zu uns, die noch nie einen Garten gehabt haben. Die holen sich dann Ratschläge von uns alten Hasen ab“, sagt der erfahrene Kleingärtner lachend.

Knapp über Annelies Engls Kopf hinweg setzt eines der Spatzeneltern erneut zum Landeanflug auf das Nest neben der Dachrinne an. Schon bald werden die jungen Spatzen ausfliegen. „Früher gab’s hier mehr Vögel“, erinnert sich die 86-Jährige. „Aber der Herrgott, der lenkt das alles.“
 

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