In Nürnberg wurde das Christkind dreimal geboren

25.11.2008, 00:00 Uhr

Die Idee wird dem Rechtsrat Christoph Schulz zugeschrieben. Er überzeugt 1933 den frisch angetretenen nationalsozialistischen Oberbürgermeister Willy Liebel von der Notwendigkeit, den Christkindlesmarkt aufzupolieren. Dessen Buden, die von der Insel Schütt über den Gewerbemuseumsplatz ins Verkehrsmuseum gezogen waren, geben ihm seit einigen Wintern ein zu profanes, abgelebtes Bild ab. Liebel ist begeistert. Sein Ehrgeiz, die Stadt der Reichsparteitage in schönsten volkstümlichen Farben zu beleuchten, ist riesig.

Die Stadtspitze handelt schnell. Sie verlegt den Markt noch im selben Jahr an seinen repräsentativen Ursprungsort zurück, wo er vom 17. Jahrhundert bis 1898 angesiedelt war: auf den Hauptmarkt, jetzt Adolf-Hitler-Platz. Zur Bekräftigung erfindet Liebel ein jüdisches Komplott, das den Markt einst von dort verdrängt habe. Die Gemüsehändler und die alten Budenbeschicker protestieren, sie fürchten unberechenbare Konkurrenz. Egal – Liebel ist hingerissen von seinem Plan, das Publikum vor allem mit einer Markteröffnungsfeier zu beeindrucken. Dazu soll die seit der Reformation überlieferte Gabenbringerfigur des Christkinds als lebende Mädchengestalt auftreten, reklamewirksam kombiniert mit der Nürnberger Tradition der Rauschgoldengel.

Völkisches Pathos im Eröffnungsprolog

Das Gedicht, das die hübsche junge Stadttheater-Schauspielerin Renate Timm am 4. Dezember 1933 auf der Empore der Frauenkirche vorträgt, verbreitet das völkische Pathos der Zeit. «An dieser hehren Stätte, die Deutschlands Führer weihten, und wo sich Nürnbergs Bürger voreinst als Kinder freuten . . .», heißt es darin und: «In diesem Weihnachtsglauben wird Deutschland glücklich sein.» Das Versmaß, in das der NS-Stadtrat Robert Plank die Propaganda goss, poltert jämmerlich. Am Tag darauf deutet Julius Streichers «Fränkische Tageszeitung» den Auftritt als «Symbol der neuen Zeit» einer Nation, die «zum ersten Male Weihnachten im sauberen Staate» erwartet. Durch den Christkindlesmarkt werde nun der Name Nürnbergs in alle Welt hinausgetragen.

Genau dies bewahrheitet sich pikanterweise. Liebel übertraf sich mit der Erfindung selbst. Nur wenig verändert lebt die Szenerie bis heute fort. Fanfarenbläser, Kinderchor, die beiden Rauschgoldengel links und rechts des Christkinds im Scheinwerferlicht, Glockengeläut, die in den Zugangsgassen aufgehängten Engel, die schmucken Holzbuden rund um die strohgedeckte Krippe – die Kulisse blieb. Dass der neue Christkindlesmarkt weitgehend aus brauner Romantisierung geboren ist, empfindet Nürnberg als integrierten Teil seiner Geschichte. Der Markt hat den Nürnbergern immer gefallen.

Bis 1938 tritt Fräulein Timm als Christkind auf. Dann entfällt das Spektakel im Krieg. Nur bescheidene Notweihnachtsmärkte erinnern an den Christkindlesmarkt bis 1947. Ein Jahr darauf findet er dann zum ersten Mal im Nürnberg der Trümmer statt. Die Städtischen Bühnen stellen wieder die Akteurin: Sofie Keeser spielt bis 1960 das Christkind und spricht einen neuen Prolog. «Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder wart» – so beginnt er bis heute. Verfasser ist Friedrich Bröger, Chefdramaturg des Theaters und als Sohn des Arbeiterdichters Karl Bröger politisch unverdächtig.

«Man fand nichts dabei, alte Traditionen dieser eher unverfänglichen Art fortzuführen; an eine Neugestaltung dachte niemand», schreibt die Volkskundlerin Susanne von Goessel-Steinmann in ihrem RauschgoldengelBuch. Wie die «Rückkehr zur Normalität» habe es sich angefühlt, stellt der Nürnberger Historiker Ralf Nestmeyer in der «Zeit» fest, der die Wiedergeburt des Christkindlesmarktes 2003 einmal eine Seite wert war.

Das ehemalige Christkind Irene Brunner, von 1961 bis ’68 Keesers Nachfolgerin, bestätigt das. Dass die Stadt irgendetwas Unrechtes beibehalten hätte – nirgends ein Gedanke daran. «Ich wusste damals gar nicht, dass die NS-Machthaber das Christkind erfunden haben. Es ist auch nie darüber gesprochen worden.» Da Irene Brunner kurioserweise selbst in diesem Dezember ihren 75. Geburtstag feiert, denkt sie viel nach über die Christkindhistorie. Und kommt zum Ergebnis: «Erst heute möchte man sehr viel von früher wissen. Ich finde es gut, dass man die Zeit nicht verschweigt. Der alte und neue Christkindlesmarkt gehören zusammen. Warum hätte man sich das kommende Schöne kaputtmachen sollen, nur weil es das Schlechte gegeben hat?»

Die zunächst behelfsmäßigen Buden zwischen den Ruinen – sie waren «Neubeginn, Trost, Hoffnungbringendes», sagt Irene Brunner. Brögers Christkind-Gedicht, anfangs vollends auf die Kriegszerstörung bezogen, fasste diese Hoffnung rührend in Reime. Die vierte Strophe etwa endet 1948 so: «So strebt euch, lasst nur den Zeiten Lauf, auch wieder ein neues Nürnberg herauf. Und glaubt ihr es nicht und scheint es euch weit, so denkt zurück an die Kinderzeit, ob das Christkind, wenn es euch was versprach, durch Vater und Mutter, sein Wort jemals brach.»

Bröger dichtete über den Wiederaufbau

Fast vergessen ist, dass der Autor den Prolog in den 50er und 60er Jahren mehrfach so umschrieb, wie der Wiederaufbau voranging. Eine Passage in Irene Brunners erster Fassung lässt sie noch heute beim Durchlesen schaudernd an den Luftangriff vom 2. Januar 1945 zurückdenken. «Und dieser Platz war stets das Herz der Stadt. Jahrhunderte bauten ihn, doch ein Tag hat ihn ausgelöscht, für immer, wie es schien.» In der heutigen Fassung von 1966 ist die Historie getilgt, von «Hochhäusern dieses Tags, Fabriken dieser Welt» ist die Rede.

Ein drittes Mal wurde das Christkind 1969 erfunden. Der damalige Presseamtschef Walter Schatz regte das bis heute geltende Wahlverfahren mit Mitsprache der Nürnberger an. In Heilbronn hatte er gesehen, wie gut das dort beim «Käthchen» lief. Da jetzt eine Schülerin und keine Berufsschauspielerin mehr die Rolle übernahm, hatte das Christkind nach der Markteröffnung Zeit für Auftritte bei Kindern, Kranken und Repräsentationsanlässen. Mehr und mehr. Rebekka Volland, die 2008 ihre Amtszeit als 22. Nürnberger Christkind beendet, hat 170 solcher Termine vor sich. Am Freitag trägt sie den 61. Prolog vor, Fernsehsender werden es in viele Länder übertragen. Die Botschafterin Nürnbergs ist gefragter denn je.

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