Ingress: Google schickt seine Handynutzer auf die Straße

Christian Urban

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4.2.2013, 00:00 Uhr
Eingeweihte wissen Bescheid: Der Schöne Brunnen ist nicht nur eines der bekanntesten Wahrzeichen Nürnbergs, hier befindet sich auch ein heftig umkämpftes Ingress-Portal.

© Reinhart Urban Eingeweihte wissen Bescheid: Der Schöne Brunnen ist nicht nur eines der bekanntesten Wahrzeichen Nürnbergs, hier befindet sich auch ein heftig umkämpftes Ingress-Portal.

CERN ist wieder einmal an allem schuld. Diesmal hat das Forschungsinstitut in der Schweiz allerdings nicht, wie in der Verfilmung von Dan Browns „Illuminati“, hochgefährliche Antimaterie erschaffen, sondern energiereiche „Exotische Materie“ entdeckt.

Gleichzeitig sind überall auf der Welt mysteriöse Portale erschienen, und zu allem Überfluss hat auch noch eine außerirdische Rasse namens „Shapers“ Kontakt zur Menschheit aufgenommen. Letztere teilte sich im Zuge dieser Ereignisse in zwei Lager, die um die Herrschaft über die Portale kämpfen: Die Erleuchteten, die die neuen technischen Möglichkeiten nutzen wollen, und der Widerstand, der genau das verhindern möchte.

Diese fiktiven Ereignisse bilden den Rahmen für „Ingress“, ein im November 2012 gestartetes Handyspiel, mit dem der Software-Gigant Google Maßstäbe setzen will. Die Handlung selbst ist dabei nicht sonderlich einfallsreich, schließlich basieren unzählige Filme, Serien und Bücher auf einem ähnlichen Plot. Darüber hinaus ist die Hintergrundgeschichte bisher relativ lückenhaft, da sich das Spiel noch in der Entwicklungsphase befindet.

Revolutionär ist es vielmehr deswegen, weil man es nicht gemütlich von der Couch aus spielen kann: Für Ingress müssen die Menschen nach draußen auf die Straße. „Augmented Reality“ — übersetzt: erweiterte Realität — ist das Zauberwort. Zum Spielen nötig sind ein Android-Smartphone oder -Tablet mit GPS-Empfang und eine Einladung von Google, denn noch befindet sich das Spiel in der geschlossenen Beta-Phase. Es ist also derzeit noch nicht möglich, sich einfach anzumelden und loszulegen. Stattdessen müssen Interessenten eine Menge Geduld mitbringen: Nach der Registrierung auf ingress.com dauert es teilweise Monate, bis endlich die ersehnte Einladung im E-Mail-Postfach eintrudelt.

Mehr als 30 Portale in Nürnberg

Basis von Ingress ist eine minimalistische, schwarz-blau eingefärbte Karte des Ortes, an dem sich der Spieler befindet. Will er nun Portale erobern oder miteinander verbinden — zwei der Hauptaufgaben im Kampf zwischen den Erleuchteten und dem Widerstand — muss er sich direkt am entsprechenden Portal befinden. Und davon gibt es nicht gerade wenige: Alleine die Nürnberger Innenstadt hat derzeit mehr als 30 zu bieten, wie beispielsweise am Schönen Brunnen, am Ehekarussell oder neben dem Germanischen Nationalmuseum.

Ingress: Google schickt seine Handynutzer auf die Straße

© Reinhart Urban

Und es könnten durchaus noch mehr werden, denn die Spieler haben die Möglichkeit, auch eigene Vorschläge für Portale einzureichen, die nach einer Wartezeit von einigen Wochen meist tatsächlich ins Spiel eingebunden werden. Insofern hat das Spiel sogar einen gewissen pädagogischen Nutzen: Da sich viele Portale an Sehenswürdigkeiten befinden, lernt man seine Stadt möglicherweise von einer ganz neuen Seite kennen.

Darüber hinaus hat Ingress auch eine nicht zu unterschätzende soziale Komponente. Möchte man als Neuling im Spiel aufsteigen, um mächtige Portale der gegnerischen Fraktion zu erobern, muss man sich zwangsläufig via Chat mit anderen Spielern organisieren. Man ist also nicht nur an der frischen Luft, sondern knüpft auch noch neue Kontakte. In diesem Zusammenhang hat der eingeschränkte Zugang zu Ingress sogar einen Vorteil: Um die zehn aktive Spieler tummeln sich derzeit in Nürnberg — in diesem recht familiären Kreis lernt man sich zwangsläufig schnell kennen.

Trotz der Begeisterung über dieses faszinierend neue Spielprinzip dürfen aber auch die negativen Aspekte nicht vergessen werden: Der Arbeitsaufwand, den Google insbesondere in die Verwaltung der anfallenden Daten investiert, und der mit einer wachsenden Anzahl von Spielern vermutlich noch deutlich steigen wird, ist enorm. Da mag es auf den ersten Blick überraschen, dass das Spiel kostenlos im Play Store erhältlich ist. Doch dem Nutzer muss klar sein: Kostenlos ist nicht gleichbedeutend mit umsonst.

Die Bezahlung erfolgt vielmehr auf andere Weise. Während man auf der Suche nach Portalen mit dem Smartphone in der Hand durch die Stadt schlendert, sendet das Gerät permanent exakte Ortsdaten an Google, über deren weitere Verwendung der Konzern den Mantel des Schweigens breitet. Denkbar wäre beispielsweise, dass die gesammelten Daten in zukünftige ortsbasierte Werbung für Smartphones einfließen, oder dass Google damit sein Kartenmaterial optimiert.

Faszinierende GPS-Schatzsuche

Und obwohl die App kostenlos ist, können durchaus reale Kosten anfallen: Möchte man so viele Portale wie möglich erobern und wohnt nicht mitten in der Stadt, bleibt teilweise nur die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel oder des Autos. Da das Spiel noch jung ist, gibt es hierzu bisher keine Nutzungsstatistiken — es ist aber zu befürchten, dass seine Öko-Bilanz insbesondere in den autofreundlichen USA verheerend ausfällt.

Lässt man allerdings die Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes außer Acht und nutzt Ingress als Gelegenheit, sich öfter mal aufs Fahrrad zu schwingen oder die Stadt zu Fuß zu erkunden, ist es eine faszinierende GPS-Schatzsuche mit enormem Unterhaltungspotenzial. Vorausgesetzt natürlich, man ist einer der Glücklichen, die eine Einladung erhalten haben.

Wer also demnächst am Schönen Brunnen einen Menschen sieht, der angestrengt in sein Smartphone starrt: bitte nicht stören. Möglicherweise liest er keine SMS, sondern steckt gerade mitten im unsichtbaren, aber epischen Kampf um unseren Planeten.

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