Schritt für Schritt zu einer Diagnose

13.11.2014, 08:16 Uhr
Schritt für Schritt zu einer Diagnose

© Harald Sippel

Manchen Menschen mögen solche Fragen überflüssig erscheinen. Für die rund 150 000 Parkinson-Patienten in Deutschland sind sie hingegen schon heute sehr wichtig – denn ihre Gangsignatur verrät nicht nur viel über das Stadium ihrer Krankheit, sondern kann auch zeigen, wie schnell der Prozess fortschreitet. Und Ärzten kann er wichtige Hinweise für die passende Medikation liefern. Aber nicht nur das: Auch bei anderen Krankheiten kann eine Schrittanalyse bei der Früherkennung, Diagnose und Behandlung helfen – zum Beispiel bei Multipler Sklerose, bei Schlaganfall und bei den verschiedensten Erkrankungen des Bewegungssystems. In vielleicht gar nicht allzu ferner Zukunft könnten Freizeitsportler die Schrittanalyse so selbstverständlich nutzen wie heute schon Schrittzähler, GPS-Uhren oder Pulsmesser.
Die Grundlagen für den Einsatz der Schrittanalyse hat ein interdisziplinäres Forscherteam an der Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) gelegt und arbeitet mit Hochdruck an der Weiterentwicklung – in Kooperation mit regionalen Partnern aus der Industrie wie der Erlanger Software-Firma Astrum IT GmbH und der Adidas AG.

Zuerst einmal lernen, was der Arzt kann

Prof. Björn Eskofier vom Lehrstuhl für Mustererkennung ist für den technischen Part des Projekts zuständig. Sein Team hat nicht nur den kleinen Sensor entwickelt, mit dessen Hilfe sich die Schritte messen lassen – vorausgesetzt, die kleine Box mit dem Chip wird zuvor am Schuh angebracht. Mit seinen Mitarbeitern und der Firma Astrum hat Eskofier das dahinter stehende System entwickelt, das dann die Daten auswertet und über die Technologie der Mustererkennung persönliche Gangsignaturen erstellen kann.
Bei dem Projekt geht es passend zum Namen auch schrittweise voran. Am Anfang stand die Entwicklung einer Gangsignatur für Parkinson-Patienten, die weiterhin einen Kernbereich der Forschung bilden. Die entsprechende Forschungsfrage lautete: Kann man mit Sensoren automatisch und objektiv das Gleiche erfassen und bewerten, was der Arzt – in diesem Fall der Neurologe – kann? „Um darauf eine Antwort zu finden, mussten wir zuerst einmal lernen, was der Arzt kann“, erläutert Eskofier.
„Das lief so ab, dass sehr viele Patienten gleichzeitig vom Arzt und vom technischen System bewertet wurden“, sagt der Leiter der Gruppe „Digitaler Sport“ am Lehrstuhl für Mustererkennung weiter. Bei 500 Parkinson-Patienten und einer ebenso großen Kontrollgruppe von Gesunden ist das bereits geschehen.
In Zusammenarbeit mit der molekular-neurologischen Abteilung an der Uniklinik ist die Auswertung erfolgt. Und das Ergebnis hat die Forscher verblüfft. Denn die Übereinstimmungen waren groß. „Das, was der Arzt sieht, kann auch der Sensor erkennen“, sagt Dr. Jochen Klucken, stellvertretender Leiter der Abteilung für Molekulare Neurologie. Das technische System könne und solle zwar nicht den Arzt ersetzen, betonen die Forscher. Aber der Patient muss in Zukunft nicht erst zum Arzt, sondern kann vorab vom System gescreent werden, was wiederum dem Arzt eine wichtige und objektive Entscheidungsgrundlage für die Diagnose und Behandlung liefert.

Riesiges Potenzial für neue Anwendungen

„Das System ist immer objektiv“, sagt Eskofier. Subjektive Einschätzungen von Ärzten würden damit vermieden. Zu solch subjektiven Beeinflussungen der Wahrnehmung kann es zum Beispiel kommen, wenn der Arzt zuerst einen stark beeinträchtigten Patienten sieht und sofort danach einen wenig beeinträchtigten. So kann es zu einer überhöhten Einschätzung des vergleichsweise fitten Patienten kommen. Das System ordnet die jeweilige Gangsignatur in eine Skala aller Untersuchten ein, so dass man jederzeit die Position des Patienten sehen kann. Zum typischen Gangbild eines Parkinson-Patienten gehören kleine Schritte. Der charakteristische schlurfende Gang entsteht durch den geringen Zehen- und Fersenabhub.
Nicht weniger wichtig ist die Weiterentwicklung des Systems. Denn der Sensor im Schuh ist dazu geeignet, die Messung auch zuhause im alltäglichen Umfeld und zu unterschiedlichen Tageszeiten vorzunehmen. So lassen sich nicht nur leichter Verlaufskontrollen erstellen, sondern auch Medikamente exakter dosieren. Der wissenschaftliche Mitarbeiter Samuel Reinfelder widmet sich in seiner Doktorarbeit dem Einsatz des Systems im ambulanten und häuslichen Bereich.
Und da in dem System ein riesiges Potenzial für weitere Anwendungen steckt, wird das Konzept nun auch für die Gangbild-Erkennung bei weiteren Erkrankungen fortentwickelt: Multiple Sklerose, Schlaganfall und Erkrankungen des Bewegungssystems wie Arthrose, Osteo-Arthritis oder nach Gelenk-Ersatzoperationen. Die Projekte werden von der bayerischen Forschungsstiftung und dem
Emerging Fields Office der FAU finanziert. Der Erlanger Verein „Gesundheit und Medizin“ hat die Projekte dieses Jahr mit dem Medizinpreis ausgezeichnet.
Für die Zukunft scheint das Potenzial riesig. Denn vom Prinzip her wäre das System geeignet, Krankheiten des Bewegungsapparates frühzeitig zu erkennen. Grundlage sind Veränderungen des individuellen Gangbildes, die sich durch Verlaufsmessungen zeigen. Für Björn Eskofier ist es zwar noch Zukunftsmusik, dass sich Freizeitsportler schon als junge Menschen einen Sensor zulegen und ihre Bewegungsveränderungen messen lassen. Aber wenn die Industrie in Kooperation mit der Wissenschaft entsprechende Lösungen entwickelt und zur Marktreife bringt, erscheint heute kaum noch etwas unmöglich

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