Teilzeit-Mama der Christkinder hört auf

29.10.2011, 10:44 Uhr
Teilzeit-Mama der Christkinder hört auf

© Karlheinz Daut

Nie hätte sie selbst dieses Christkind darstellen wollen, das merkte sie schon als Zwölfjährige an ihrer Gänsehaut auf dem vollen Hauptmarkt. „Erstens bin ich nicht schwindelfrei“, sagt Edith Kerndler-Hamburger, „und zweitens hätte ich vor 25000 Menschen einen Kloß im Hals.“

Als Begleiterin des Christkinds fühlt sie sich dagegen wohl. „Ich habe es immer als Aufgabe verstanden, jungen Menschen etwas fürs Leben zu vermitteln. Dass man Herzlichkeit nicht spielt, sondern benachteiligten und alten Menschen wirklich etwas schenken kann.“ Sie entschuldigt sich für „den Schmalz“. Hier spricht ein bodenständiger, fröhlicher Mensch.

Mit der Christkind-Betreuung hat die 60-Jährige einen scharfen Kontrast in ihr Berufsleben gebracht. Denn ihr Handwerk waren eigentlich Zahlen. Als Verwaltungsangestellte kontrollierte sie im städtischen Presse- und Informationsamt seit 1983 das Budget, bis zu ihrem Abschied in den Ruhestand in diesem Sommer. 1969 kam die Nürnbergerin vom Hausgerätekonzern AEG zur Stadtverwaltung. Eine Stelle bei der Polizei hätte sie interessiert, aber man schickte sie in die Kämmerei.

Im Presseamt vermachte ihr dann der erste Christkind-Verantwortliche Kurt Prölß 1990 seine Aufgabe – und Kerndler-Hamburger begann den geschäftlichen Umgang mit Menschen zu lieben. Erst nach und nach sei sie hineingewachsen, sagt sie, und habe begriffen, wie viel die Christkindfigur bewirken könne. So viel, dass sie vor ihrer endgültigen Rente jetzt noch eine Runde anhängt.

Seit 1969 wird ein Mädchen aus der Bevölkerung für zwei Jahre in das Ehrenamt gewählt. Die jungen Frauen brauchen Zuspruch und eine planende Hand. Mehr und mehr. In Kerndler-Hamburgers Amtszeit hat sich die Zahl der Christkind-Auftritte in der Adventszeit verdreifacht, auf rund 170 von frühmorgens bis Mitternacht. Diese Termine sind nur eine Auslese aus 240 Anfragen. Längst ist die Presseamts-Mitarbeiterin von September bis Dezember ausschließlich mit der Koordination beschäftigt und häuft leicht 200 Überstunden an.

„Ich weiß am besten, was die Mädchen leisten“, sagt Edith Kerndler-Hamburger. „Es ist Knochenarbeit. Und oft habe ich Bauchgrimmen, ihnen das alles zuzumuten. Früher lief das viel beschaulicher.“ Undenkbar erscheint es heute, dass die Schülerinnen bis 1996 ohne Chauffeur zurechtkamen, ohne Handy sowieso. Auch Journalisten vereinnahmen die Engelsgestalt zunehmend, wollen sie zum Kochen, Singen und Plaudern bringen, als ob es im Dezember sonst keine Nachrichten gäbe.

Teilzeit-Mama der Christkinder hört auf

© Harald Sippel

Die Dauerpräsenz ist im Rathaus gewollt, seit Nürnberg seine Kampagne als „Weihnachtsstadt“ fährt und kräftig um Wintertouristen buhlt. Organisatorin Kerndler-Hamburger aber achtet darauf, „dass im Terminplan 80 Prozent soziale Anlässe stehen und der kleinere Teil Werbeauftritte sind“. Kommerzielle Firmenbuchungen werden abgelehnt, und auch die Anfrage des Männermagazins „Playboy“ für seine Weihnachtsfeier war zwecklos. „Ich fände es sehr schade, wenn man diese Gewichte zu Marketingzwecken verschieben würde.“

Schon früher musste Edith Kerndler-Hamburger die keusche Figur vor Begehrlichkeiten schützen. Oberbürgermeister Ludwig Scholz wollte für mehr Reichweite ein zweites Christkind einführen, was sie ihm auszureden half. Es gab Schaumschläger-Debatten um ein männliches, ein schwarzes oder ein christliches Christkind. Doch richtig zugesetzt hat Kerndler-Hamburger, dass sie bei der Wahl von Marisa Sanchez 2001 rassistische Beschwerden erhielt, weil das Mädchen aus einer spanischstämmigen Familie stammte. Marisa Sanchez wurde übrigens zu einem der beliebtesten Christkinder.

Wenn ein neues Christkind anfängt, ist seine Betreuerin in den ersten Wochen rund um die Uhr hinter den Kulissen dabei. Als Leibwächterin, Seelsorgerin, Butlerin, Telefonistin, Motivationstrainerin. Als „Mama“? Eher nicht, sagt Kerndler-Hamburger, die mit dem SPD-Stadtrat Arno Hamburger verheiratet ist und keine Kinder hat. „Die Mädchen erzählen mir ja Dinge, die sie ihrer Mutter nicht so leicht erzählen“. Wenn man täglich 18 Stunden miteinander teilt, sind Liebeskummer, Bauchweh und Lebensträume keine Geheimnisse mehr.

Bis heute ist, von Erkältungskrankheiten abgesehen, noch kein Christkind unter der Last eingeknickt, und keines hat seinen Kraftakt bereut. So wie es überhaupt erstaunlich wenige Pannen gab.

Nur bei Barbara Zillgens (1993/94) scheiterten einmal Abend-Auftritte, weil der Kostümkoffer auf einem Rückflug von Düsseldorf zurückblieb. Johanna Heller (2009/10) verstieg sich kurz vor dem Auftritt in Silbereisens Volksmusik-Fernsehshow in so große Nervosität, dass die Betreuerin ihr die feuchten Hände drücken musste und eintrichterte „Du–bist–gut!“.

„Es ist nie Routine“, sagt Edith Kerndler-Hamburger und resümiert: „Es waren alles tolle, sozial engagierte Mädchen. Jedes hatte andere Stärken.“ Aus Diskretion macht sie nicht öffentlich, wer ihre Lieblinge waren. Sie weiß genau, welches Mädchen sich aus Angst vor Ansteckung ständig die Hände wusch, welches echt oder spröde wirkte, eine streitlustige Mutter hatte. Ein anderes besaß eine Neigung zur Verspätung. Ein Christkind fing sich einen Rüffel ein, weil es allzu sorglos die Nacht zum Tag machte. Und mehrere hatten irgendwann Durchhänger, ratterten dann das Märchen im Kindergarten nur noch herunter.

„Loben ist ganz wichtig, aber ich kritisiere dann auch“, erzählt Kerndler-Hamburger. Das könne sie gut: offen und locker, aber gleichzeitig bestimmend auftreten. „Ich sage: Schau einfach in die Gesichter! Vergiss nicht, du repräsentierst die Stadt Nürnberg!“ Die jungen Frauen, überlegt sie, seien zuletzt selbstbewusster, forscher geworden. Der Draht zur jungen Generation habe ihr intensive Menschenkenntnis gebracht.

Ein Mitarbeiter des Presseamts wird Kerndler-Hamburgers Herzensaufgabe ab 2013 weiterführen. Sie klebe nicht an ihrer Arbeit, sagt sie. Wenn nach der bevorstehenden Wahl am 2. November ihr elfter und letzter Zögling zu begleiten ist, stellt sich bei der 60-Jährigen also weniger Abschiedsstimmung ein als vielmehr die nötige Selbstdisziplin.

„Ich will, dass jeder sagt: Mensch, ist das ein tolles Christkind! Für mich ist es einfach Genugtuung zu sehen, dass ein Mädchen mit meiner Terminplanung viele Menschen glücklich gemacht hat.“ Dass sie selbst vor jeder Eröffnungszeremonie des Christkindlesmarktes von Aufregung und Rührung gebeutelt wird, versucht sie um jeden Preis zu verbergen.

Mit einem Großteil der Christkinder steht die Betreuerin noch in Kontakt. Die Ehemaligen gratulieren ihr zum Geburtstag, laden sie zur Hochzeit ein, treffen sich mit der Vertrauten zum Kaffee.

Dankbar erzählen sie ihr, wie sehr sie von der Zeit profitierten. „Ich habe von allen ganz süße Abschiedsbriefe bekommen.“ Und wenn ein Christkind aus dem Amt scheidet, wird Edith Kerndler-Hamburger traditionell wehmütig. Dann gibt es immer ein Abschiedsessen mit der Familie. „Da fließen jedes Mal Tränen.“

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