Gut gemeint, falsch gebremst

18.4.2020, 15:46 Uhr
Gut gemeint, falsch gebremst

© Volkswagen

Weit und breit kein Auto in Sicht, kein Fußgänger, kein Reh. Und trotzdem: Das Auto legt, unter schrillem Warnton und Blinkanzeige, eine Vollbremsung hin. Was ist geschehen? Ein Notbremsassistent hat eingegriffen, aber wohl Signale falsch gedeutet. Leitplanken in Kurven, Mülltonnen am Straßenrand, Verkehrsinseln - alles mögliche, aber letztlich ungefährliche Hindernisse.

Gefahrensituationen, ja, sogar Unfälle können aber dennoch entstehen: Und zwar dadurch, dass der Fahrer angesichts einer unvermuteten Vollbremsung des Wagens erschrickt und dann auch noch durch eine Lenkbewegung falsch handelt. Oder aber, schlimmer noch, wenn der nichtsahnende Hintermann nicht rechtzeitig reagieren kann und auffährt.

Wer haftet?

Wie aber ist die Rechtslage? Wer haftet? Der Fahrer des Vollbrems-Autos oder der Hintermann, der auffährt, sich aber darauf berufen kann, dass keine Gefahrensituation vorlag?

Bisher sind, so die Auskunft von Rechtsanwalt Gerhard Hillebrand vom Deutschen Anwaltverein, keine Verfahren oder Urteile bekannt, die sich explizit auf eine - scheinbar - unnötige Vollbremsung eines Assistenzsystems und einem daraus resultierenden Unfall beziehen. Daher ist die Sachlage eher verworren. Fakt aber ist, dass zunächst einmal der Fahrer selbst die Verantwortung hat - möglicherweise selbst dann, wenn das Fahrzeug ohne sein Zutun selbständig "in die Eisen steigt". Schwierig dürfte es sein, selbst den Beweis zu erbringen, dass die Technik Auslöser war. Möglicherweise lässt sich dies durch das Auslesen des Fehlerspeichers feststellen. Sicher ist aber nicht, ob der Fall auch gerichtsverwertbar reproduziert werden kann.

Assistenten ausschalten

Einzige Möglichkeit, um auf Nummer sicher zu gehen: Den Assistenten ausschalten oder so herunterzuregeln, dass er nicht oder nur im allerschlimmsten Fall reagiert. Was natürlich weder im Sinne des Erfinders noch im Sinne der Verkehrssicherheit (Vermeidung von Auffahrunfällen, Kollisionen mit Fußgängern etc.) ist. Zudem wird die Frage aufgeworfen, wie sich die Sachlage entwickelt, wenn das dauerhafte Einschalten eines derartigen Assistenten zur Pflicht wird.

Rückruf bei Nissan

Unklar ist auch, inwieweit beispielsweise bei einer Fehlreaktion - Leitplanken, Mülltonnen am Straßenrand, Verkehrsinseln - eine Produkthaftung des Herstellers infrage käme. Interessant in diesem Zusammenhang, dass es Anfang des Jahres einen Rückruf des Herstellers Nissan gab. Und zwar genau aus den geschilderten bzw. ähnlichen Gründen. Auf der Internetseite kfz-rueckrufe heißt es dazu: "Weil sich der Notbremsassistent in bestimmten Fahrsituationen unnötig einschaltet, ruft Nissan weltweit über 1,5 Millionen Fahrzeuge zurück. Dies bestätigte eine Sprecherin der Deutschland-Zentrale auf Anfrage und nannte beispielhaft Probleme an Bahnübergängen und niedrigen Ampeln, sowie auf Brücken und Parkplätzen. In Online-Foren berichten Nissan-Kunden insbesondere von gefährlichen Situationen beim Überholvorgang und in Kurven.

In so mancher Betriebsanleitung finden sich denn auch Hinweise auf, etwas nebulös formuliert, "Funktionseinschränkungen". Beispielsweise bei engen Kurvenfahrten, bei sehr schlechten Witterungsbedingungen oder "Fahrten über eingelassene metallische Objekte, z. B. Bahnschienen". Nicht selten wird dann der Rat erteilt, das System abzuschalten. Was freilich während der Fahrt nicht ratsam ist.

Nicht immer ist der Hintermann schuld

Die landläufige Meinung, dass bei einem Auffahrunfall im fließenden Verkehr immer der Hintermann schuld hat, wird von der Rechtssprechung übrigens nicht grundsätzlich unterstützt. Zwar besagt Paragraph 4 der Straßenverkehrsordnung, dass der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein müsse, "dass auch dann hinter diesem gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird". Die Schuldfrage ist klar, wenn der Auffahrende zu wenig Abstand eingehalten hat und/oder wenn er zu schnell gewesen ist.

Wenn der Vordermann aber plötzlich und unerwartet bremst, wird es schon schwieriger. Paragraph 4 der Straßenverkehrsordnung sagt nämlich weiter: "Wer vorausfährt, darf nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen". Ein solch zwingender Grund kann beispielsweise sein, dass ein Fußgänger oder ein großes Tier über die Fahrbahn gelaufen ist. In solchen Situationen wird durch Bremsen ein größeres Übel bis hin zu einem Schaden für Leib und Leben verhindert.

Nicht als zwingender Grund wird es gewertet, wenn ein vorausfahrender Autofahrer beispielsweise für eine querende Maus oder vor einer "Radarfalle" gebremst hat. Solch grundloses Bremsen stellt einen Verstoß gegen Paragraph 4 dar und führt dazu, dass dem Vordermann eine Teilschuld zugesprochen werden kann.

Gerhard Windpassinger/ule