Barlo, die Bürste, ist völlig fertig

22.9.2015, 08:00 Uhr
Barlo, die Bürste, ist völlig fertig

© Foto: Variopress

Rindergulasch. Die Fasern des Fleisches und andere hartnäckige Reste tummeln sich in den Zahnzwischenräumen. Die Zungenspitze verzweifelt zunehmend!

„Das ist der worst case. Dafür wurde ich ausgebildet. Jetzt muss alles richtig gemacht werden, oder das Zeug klebt da noch die nächsten 15 Jahre“, erklärt Barlo, die Zahnbürste, fachmännisch. Alles verläuft reibungslos. Der Drehkopf dreht sich, die App arbeitet, Barlo bleibt konzentriert, bis sich das letzte Stückchen aus seinem Versteck löst.

Barlos Familienstammbaum lässt sich bis auf die elektrische Zahnbürste zurückverfolgen. Er ist mit Recht stolz auf diese edle Herkunft. Aber „früher, da ging es noch um Ruhm und Ehre, heute ist es nur noch rein-raus, hoch-runter und nächste Bürste!“ bedauert er.

Damals, im Trainingscamp für angehende Mundpflege-Spezialeinheiten im Dschungel von Französisch-Guayana, waren noch keine Zweifel erkennbar. Laut und deutlich dröhnte es aus den Anlagen „Engineered to perform!“ und „You are the world’s first of your kind with bluetooth connectivity!“

Die jungen Rekruten lauschten diesen Worten, sie wiederholten diese Worte, sie lebten diese Worte. Wertvolle junge Bürsten, die der Karies einen Kampf bis zum bitteren Ende liefern sollten. Einige von ihnen überstanden den täglichen Drill nicht. Die anderen zogen nach abgeschlossener Ausbildung in die Badezimmer der Welt, um ihren Dienst anzutreten.

So auch Barlo. Er wurde online von einem jungen Mann, nennen wir ihn Matthias, erstanden. Der verlässt sich seitdem auf Barlos Kompetenz. „Man muss nicht so viel machen und auch kaum nachdenken, wie bei normalen Zahnbürsten.“

Während seiner Arbeit ist Barlo ständig über die Bluetooth-4.0-Technologie mit dem Smartphone verbunden, um einen Service zu liefern, den sonst niemand liefert: ein „komplett personalisiertes Mundepflegeprogramm“ verspricht der Hersteller, außerdem „sechs Reinigungsmodi inklusive Zungenreiniger, einen externen Smart Guide und eine dreifache Andruckkontrolle“.

Matthias gibt zu, dass er das alles für „mega überflüssig“ hält. Barlo kehrt mit geknickten Borsten zur Ladestation zurück. Liegt da etwa Melancholie in seinem Blick? Er wendet sich ab, als wolle er nicht, dass man sein Gesicht sieht.

Das Zahnbürsten-Geschäft ist schnelllebig. Es gibt immer raffiniertere Konkurrenten mit tollen neuen Features – oder Nutzer, die nicht komplett bewegungsfaul sind. Auch in der Bürsten-Branche ist man leicht ersetzbar.

„Studien haben ergeben, dass sogar die modernsten elektrischen Zahnbürsten nicht besser sind als ihre manuellen Kollegen, solange der Nutzer mit der richtigen Technik putzt“, sagt der Zahnarzt Manfred Adelmann.

Auch Barlo kennt diese Aussage nur zu gut. „Es ist natürlich hart, so etwas hingeklatscht zu bekommen. Da fragt man sich nach dem Sinn. Warum bin ich überhaupt hier?“

Eine bluetoothfähige Elektrozahnbürste mit Verbindung zu Handy-Mundpflege-App – ja, warum ist sie überhaupt hier? Barlo starrt in die Tiefe des Waschbeckens wie ein Mann Mitte 40, der merkt, dass er seinen Beruf hasst und seine Frau nicht mehr attraktiv findet.

Wo ist der Sinn? Wo ist der Sinn, wenn die Früchte unserer technischen Entwicklung für die Vermarktung von Alltagsgegenständen missbraucht werden?

Das Gebiet der Körperhygiene ist ein Paradebeispiel dafür: Hier werden Shampoos kleine Plastikpartikel beigemengt, allein, um dem Konsumenten ein Gefühl von Griffigkeit zu vermitteln. Zahnpasten, die Fluorid enthalten, erfüllen eigentlich schon ihren Zweck. Aber um sich von anderen Pasten abzusetzen, jonglieren die Hersteller mit allerhand Stoffen, die letztlich keinen Unterschied im Putzergebnis machen.

Kein Wunder, dass Barlo eine depressive Episode nach der anderen durchlebt. Er selbst ist schließlich Teil dieser Verschwörung gegen den guten Ruf des technischen Fortschritts geworden.

„Ich fühle mich schmutzig. Auch wenn ich nach der Arbeit gut abgespült werde. Der Dreck geht nicht weg, so als wäre er innen drin“, meint er mit brüchiger Stimme. Man sieht ihm die inneren Qualen an. Es vergeht offenbar kein Moment, in dem er nicht über das Absurde nachdenkt, das seine Existenz umgibt.

Das günstigste Angebot für Barlos liegt bei über 120 Euro. Zum Vergleich: Bei Aldi bekommt man für diesen Preis 96 Handzahnbürsten. Laut rp-online.de verbraucht ein Mensch in seinem Leben 134 Bürsten.

Als wir Barlo mit diesen Zahlen konfrontieren, bereuen wir es sofort. Er steht einfach nur da auf der Ablage zwischen Spiegel und Becken. Es ist jetzt keine gewöhnliche Midlife-Crisis mehr – diese Bürste ist gebrochen. Er wirft uns noch einen emotionslosen Blick zu – und dann passiert es:

Sein kleiner Elektromotor heult einmal kurz auf und dann geht zum letzten Mal die Batterie-Anzeige auf seiner Brust aus. Nicht einmal ein Spenderakku kann Barlo jetzt zurückholen, denn die Energiequelle ist nicht austauschbar.

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