"Profe, da steht Nautico, stimmt’s?"

28.10.2017, 10:00 Uhr

© privat

Als ich im September vor einem Jahr in den Flieger stieg, wusste ich nicht, was auf mich zukommen würde. Ich war auf dem Weg in ein fremdes Land, Bolivien. Ein Land, über das ich eigentlich kaum etwas wusste. Meine Wissensbasis, ein Vorbereitungsseminar, eine ärztliche Beratung und eigene Internetrecherchen, die mich eher abschreckten als motivierten: Kriminalität, Verkehrsunfälle, und Malaria . . .

Warum Bolivien? Ich wollte mit meinem Freiwilligendienst in ein Entwicklungsland gehen, um kennenzulernen, wie die Menschen dort leben. An Zentral- und Südamerika, seiner Kultur und seinen Bewohnern hatte ich schon lange Interesse, da zwei meiner Cousinen bereits dort einen Freiwilligendienst geleistet hatten.

Hinter dem Projekt C.A.D.S.E., in dem ich arbeitete, verbirgt sich eine Hausaufgabenbetreuung im Armenviertel Uspha Uspha der Stadt Cochabamba. Täglich besuchten uns etwa 20 Kinder, die wir bei ihren Hausaufgaben unterstützten und individuell förderten. Anschließend boten wir noch Aktivitäten wie Musik, Basteln, Sport, Computerstunden, Backen oder spielerischen Englischunterricht für die Kinder an.

Ich arbeitete mit den jüngeren Kindern. Erschreckenderweise können viele von ihnen nicht lesen und schreiben, erkennen die Mehrheit der Zahlen nicht und können nicht richtig rechnen. Meine Aufgabe war daher, ihnen diese Grundlagen zu erklären und mit ihnen zu üben.

Silben zusammensetzen

Häufig gab ich Leseunterricht in einer Gruppe von fünf Kindern, doch meist waren es nur ein bis zwei. Die Kinder lernen hier, nach Silben lesen – zum Beispiel ma, me, mi, mo, mu, la, le li, lo, lu – und setzen aus diesen die ersten Wörter zusammen. Dafür hatte ich Buchstabenkärtchen, um das Ganze etwas spielerischer zu gestalten.

So führte ich die Kinder langsam an immer schwierigere Wörter bis zu ersten Sätze heran. Nachdem ich das mit einem siebenjährigen Jungen etwa sechs Wochen durchgezogen hatte, war ich total überrascht, als er mir selbstständig Wörter auf Arbeitsblättern vorlas.

© F.: Aizar Ralde/afp/privat

Einmal zeigte er auf seine Jogginghose und sagte: "Profe, da steht Nautica, stimmt’s?" "Stimmt", sagte ich und hätte den Kleinen vor Freude am liebsten durchgeknuddelt. Mittlerweile kann dieses Kind problemlos einfachere Sätze lesen, und ich bin wahnsinnig stolz auf den Jungen.

Als ich anfing, bei C.A.D.S.E. zu arbeiten, war ich schockiert, welch große Lücken die Kinder hatten und wie viele nicht richtig lesen und schreiben konnten. Größtenteils waren das auch Kinder, die bereits in die 2., 3. oder 4. Klasse gingen. Es war mir völlig unerklärlich, wie diese Kinder die vorherigen Klassen bestehen konnten.

Ich begann daher, mich über das bolivianische Bildungssystem zu informieren. Klassen sind hier – mit bis zu 40 Schülern – wirklich groß, und das bereits in der Grundschule. Lehrer werden schlecht bezahlt und sind dadurch gezwungen, an mehreren Schulen zu arbeiten. Folglich verstehen viele Schüler den Stoff nicht und kommen nicht mehr mit.

Schüler bleiben nicht sitzen

Solche Schüler würden in Deutschland durchfallen, in Bolivien aber nicht. Hier hat der Lehrer schriftlich zu rechtfertigen, warum ein Kind eine Klasse nicht besteht. Leider ist das den meisten Lehrern zu aufwendig. Und so werden die Lücken der Kinder nie richtig geschlossen. Aber es gibt auch teure Privatschulen, die einen deutlich höheren Bildungsstandard besitzen.

Die Armut Boliviens ist eines der Dinge, die mich am meisten entsetzt haben. In Deutschland sieht man keine völlig verdreckten Kinder mit ihren Müttern bettelnd auf der Straße sitzen und keine Häuser ohne Fenster, Küche, Dusche oder fließendes Wasser. Allerdings ist das nur die eine Seite Boliviens. Es gibt auch Menschen, die wie wir leben – mit schönem Eigenheim und genügend Geld.

Bevor man Bolivien besucht, sollte man wissen, dass meist nur Spanisch gesprochen wird. Da ich das nicht konnte, war ich zunächst auf meine Mitfreiwillige Julia angewiesen. Sie fragte nach dem Weg, kaufte ein, stellte mich vor und erklärte mir, wie die Dinge auf der Arbeit funktionierten.

Und dann gab es noch ein Problem: Wenn die Leute erfuhren, dass ich Vegetarierin bin, erntete ich seltsame Blicke und Kommentare. Die bolivianische Küche ist wahnsinnig fleischlastig, die Menschen können sich in der Regel keine Mahlzeit ohne Fleisch vorstellen. Zur Arbeit nahm ich also immer mein Essen mit.

Bei meinem Freiwilligendienst habe ich das Leben in einem Entwicklungsland mit eigenen Augen gesehen, eine neue Sprache gelernt, viele interessante Bekanntschaften gemacht und Freundschaften fürs Leben geschlossen. Ich bin außerdem selbständiger und offener geworden und sehe viele Dinge mit anderen Augen. Zudem bin viel sparsamer geworden und mir ist klargeworden, wie luxuriös wir Deutschen eigentlich leben.

Verwandte Themen


Keine Kommentare