„Wer bleibt, der stirbt“

22.6.2016, 10:00 Uhr
„Wer bleibt, der stirbt“

© Foto: Horst Linke

Noor lächelt. Immer. Ihre dunklen Augen schauen freundlich. Es mag die Ruhe sein, die nach einer turbulenten Flucht aus dem Irak über die Türkei nach Deutschland in ihr Leben eingekehrt ist. Es mag aber auch die Verlegenheit sein, die von der Sprachbarriere herrührt, von der Schwierigkeit, ihre Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen.

Noor verliert ihr Lächeln auch nicht, als sie die Geschichte ihrer Flucht erzählt. Sie stammt aus Bagdad. „Da ist Krieg, da sind so viele Bomben“, sagt die 18-Jährige. Sie berichtet von einem Einkaufszentrum in der Nähe ihres Hauses, das bombardiert wurde. Einige ihrer Verwandten kamen dabei ums Leben.

Sie und ihre Familie gehören der religiösen Minderheit der Mandäer an; die Religion ist der Hauptgrund, weshalb sie ihr Land verließen. „Die Christen, Mandäer, Jesiden – sie sind alle schon tot.“ Oder geflüchtet.

Illegal in der Türkei

Noors Vater war der Erste aus der Familie, der nach Deutschland ging – vor vier Jahren. Die Mutter, der Bruder, die kleine Schwester und sie blieben. Doch nur ein Jahr später wurde die Situation unerträglich, man floh in die Türkei, „weil die deutsche Botschaft im Irak schon geschlossen war“. Noor und ihre Familie lebten lange Zeit illegal in der Türkei. Sie durften offiziell nicht arbeiten und nicht zur Schule gehen. Um trotzdem Geld für Essen und die Miete zu kriegen, jobbten Noor und ihr Bruder als Kellner. „Wir sprachen zwar kein Türkisch, aber das ging schon.“

Irgendwann kamen sie an ein Visum, der Weg nach Deutschland war frei. Sieben Monate später waren sie endlich wieder mit dem Vater in Nürnberg vereint. Der lebt heute in einer Ein-Zimmer-Wohnung, der Rest der Familie teilt sich ein Zimmer in einem Heim. „Es ist klein, laut und unhygienisch“, erzählt Noor. „Die Gemeinschaftsküche ist verdreckt, im Spiegel sieht man sich selbst kaum.“ Noor lächelt trotzdem.

Deutsch aus dem Wörterbuch

Den Hauptteil des Tages verbringt sie mit Lernen. Nach einem halben Jahr in einer Integrationsklasse geht sie jetzt in die 9. Klasse der Realschule. „Mein Bruder und ich haben schon in der Türkei aus einem Wörterbuch Deutsch gelernt.“ Viermal pro Woche hat Noor Nachhilfe. Bisher bekommt sie keine Noten in Deutsch, deshalb wird sie die 9. Klasse wiederholen.

Im Irak hatte Noor das Abi fast in der Tasche. Doch wegen eines fehlenden Stempels wird ihr das irakische Gymnasiumszeugnis nicht anerkannt. „Physik, Chemie, Mathe – das kenne ich alles schon“, sagt Noor. Aber dieses verflixte Deutsch, das fehlt eben.

Trotzdem will Noor schnell weiterlernen. Ihr Ziel ist es, Medizin zu studieren – auch wenn sie weiß, dass das ein sehr langer Weg wird. Ja, sie denkt, dass sie in Deutschland bleiben wird, „in meiner Heimat kann ich ja nicht mehr leben“.

Plötzlich verschwindet Noors Lächeln. Sie erzählt von blöden Sprüchen und Beleidigungen. Und es bricht aus ihr heraus: „Wir sind nicht hier, weil wir Geld wollen. Die Leute verstehen das nicht: Es war keine freie Entscheidung, unsere Heimat zu verlassen. Entweder wir kommen hierher — oder wir sterben.“

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