„Wir fühlten uns wie die Kaninchen im Käfig“

5.11.2014, 16:00 Uhr
„Wir fühlten uns wie die Kaninchen im Käfig“

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Frau Ertle, wie haben Sie den Bau der Berliner Mauer erlebt?
Elke Ertle: Ich erfuhr frühmorgens aus dem Radio davon. Da hörte ich plötzlich von Panzern, die auf den Straßen standen. Ich weckte meine Eltern, gemeinsam saßen wir vor dem Radio. Meine Mutter packte die blanke Angst vor einem Dritten Weltkrieg, und nach dem Frühstück wies mein Vater uns an, das Nötigste für eine mögliche Flucht zu packen. Er selbst fuhr tanken. Ich erinnere mich noch an den Satz: „Wenn es ganz schlimm wird, verlassen wir Westberlin – ganz egal, wer oder was sich uns in den Weg stellt.“ Vor meinem inneren Auge sah ich schon die Grenzposten vor mir, die auf mich schießen.

Gab es vorher keine Signale, dass das passieren würde?
Elke Ertle: Nein, wir waren ahnungslos. Wir lebten alle mit einem konstanten Gefühl der Bedrohung — denn genau darauf baute der Kalte Krieg auf: auf einer Gefahrenkulisse. Aber den Mauerbau hatten wir nicht erwartet. Es lag auch jenseits unserer Vorstellungskraft, was diese Mauer für uns bedeuten würde. Deshalb hatten wir ja so viel Angst – weil wir die Folgen nicht abschätzen konnten.

Wie hat sich das Leben für Sie dann weiterentwickelt in Westberlin?
Elke Ertle: Wir wurden immer mehr isoliert. Und wir fühlten uns alleingelassen – denn im restlichen Westdeutschland gab es durchaus Stimmen, dass man Westberlin aufgeben sollte. Es hieß: Wenn es einen Dritten Weltkrieg gibt, dann wegen des geteilten Berlins – damit waren wir Teil des Problems. Das hat uns sehr getroffen und hilflos gemacht.

Bis zu jenem Tag im Juni 1963, als der US-Präsident John F. Kennedy nach Westberlin kam. Sie sagen, das sei für Sie ein Wendepunkt gewesen. Warum?
Elke Ertle: Zu dieser Zeit mied man Westberlin. Kein anderes Staatsoberhaupt kam dahin, alle hatten Angst. Auch deshalb fühlten wir uns gefangen wie die Kaninchen im Käfig. Aber JFK nahm den Weg auf sich. Das gab mir das Gefühl, dass er sich um uns sorgt, dass wir ihm nicht egal sind.

„Wir fühlten uns wie die Kaninchen im Käfig“

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An diesem Tag sind Sie um 5 Uhr morgens aufgestanden, um möglichst nah dabei zu sein. Hat es sich gelohnt?
Elke Ertle: Die Rede hat mich im Innersten berührt, mir liefen Tränen übers Gesicht. JFK sagte, dass sein Land stolz auf die Menschen in Westberlin sei, weil sie seit 18 Jahren einer Belagerung standhielten. Und er sagte natürlich seinen berühmten Satz: „Ich bin ein Berliner.“ Er machte mich so stolz damit! Stolz, jemand zu sein, den man bewundert. Stolz, dass ich den Mut hatte, in Westberlin auszuharren. Ich hatte das Gefühl, er versteht, was es heißt, Berliner zu sein. Das war der emotionalste Moment meines Lebens.

Wie ging es nach 1963 weiter?
Elke Ertle: In den Jahren danach kühlte sich die Stimmung allmählich ab. Wir gewöhnten uns an die Mauer und versuchten, sie zu meiden. Trotz allem waren wir immer noch gefangen. Als ich mit 21 Jahren in die USA ging – zunächst nur, um ein Auslandsjahr einzulegen – fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben frei. Ich konnte in die Berge fahren, an den Strand, in die Wüste, wohin auch immer ich wollte. Ein tolles Gefühl.

Inzwischen ist der Spuk lange vorbei. Was bedeuten Mauern heute noch für Sie?
Elke Ertle: Ich bin mit Mauern aufgewachsen – nicht nur mit der Berliner Mauer, sondern auch mit vielen Grenzen, die meine Eltern mir setzten. Deshalb reagiere ich bis heute sehr feinfühlig auf Mauern. Wenn jemand meine Rechte beschneiden will, dann rebelliert alles in mir. Diese Abneigung gegen Mauern ist mir einfach in Fleisch und Blut übergegangen.

 

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