Die Erinnerungen eines „Davongekommenen“

3.10.2010, 13:00 Uhr
Die Erinnerungen eines „Davongekommenen“

© Hans-Joachim Winckler



Es gibt in Robert Schopflochers Erinnerungen gleich am Anfang einen Satz, der trifft den Leser wie ein Hieb: „Dieser Verkettung nicht voraussehbarer Umstände ist es zuzuschreiben, dass ich nicht in der Gaskammer oder im Krematorium endete wie mehr als einer meiner früheren Schulkameraden und Schulfreunde.“

Mit diesem schmerzhaft unsentimentalen, knappen, lapidaren Gedanken muss man sich nun auf den Weg machen durch ein abenteuerliches Leben, an dessen Beginn der Zufall stand. Schopflocher wird mehr als einmal darauf zurückkommen, wie brüchig eine Existenz ist, von wie viel ungeahnten Ereignissen sie beeinflusst wird, wie viel Verluste sie begleiten. Der „Davongekommene“ wird diese „Umstände“ aber auch als Auftrag begreifen; er ruht sich nicht aus auf seinem Glück, sondern mischt sich denkend, schreibend und handelnd ein. Er fragt — und bezieht das eben nicht allein auf seine jüdische Herkunft —, warum eine Minderheit kulturelle Errungenschaften, Tradition und Geschichte über Bord werfen sollte, „gewissermaßen als Preis, um von der Umwelt akzeptiert zu werden“?

Schopflocher selber hat konsequent an seiner Identität festgehalten, auch in der Fremde, dem (argentinischen) Exil, das ihm zur Heimat wurde. Die Vertreibung konnte ihm Erinnerungen, Stolz und Hoffnung nicht austreiben. Viel erlittene Erniedrigung, Ausgrenzung und Abschiede trägt er mit sich herum, immer ist da das „nachhallende Grundgeräusch, das von der Shoah ausgeht“, und doch ist er fähig zu Sätzen wie diesem: „Verwundert stelle ich fest, dass das Kindheitsland, aus dem ich verstoßen wurde, in den tiefen Schichten meines Seins weiterlebt und -wirkt, trotz der unfassbaren Verbrechen, die in ihm stattgefunden haben. Das Land und seine Sprache.“

Das „Kindheitsland“ ist Fürth und die Fränkische Schweiz. Schopflocher taucht in die behütete und schöne Vergangenheit ein, indem er sie sich mit allen Sinnen vergegenwärtigt. Daneben prägen Rituale und Widersprüche, in die sich die assimilierte jüdische Familie eingerichtet hat, Schopflochers Denken bis heute: der Weihnachtsbaum in der Königswarterstraße war da, aber dann auch der Gang in die Synagoge im fremden und rettenden Südamerika.

Der Geruch gebrannter Mandeln

Was zurückgelassen wurde in Franken, passte in keinen Koffer, aber im Herzen war es dabei: das Geräusch der Vögel im Stadtpark, „Hoffmannstropfen und Mottenkugeln im Schlafzimmer der Großeltern“, der Geruch der Pflanzen am Ufer der Pegnitz bei Ranna, die Goldbronze aus der elterlichen Fabrik, die Rauchschwaden über dem Kirchweihstand mit gebrannten Mandeln ... In all das mischte sich der Antisemitismus, den der kleine Robert am eigenen Leib erfuhr: ein „schleichendes Gift“, das in „homöopathischen Dosen verabreicht“ wurde, „dessen anästhesierender Effekt den vor der heranziehenden Gefahr warnenden Instinkt betäubte“.

Drei Welten werden es sein, denen Robert Schopflocher zeitlebens verhaftet bleibt: die mittelfränkische Kindheit, das Judentum (das in der Erziehung dann doch eine größere, prägende Rolle spielt) und Argentinien, wo er den größten Teil seines Lebens verbringt, den Beruf (Diplom-Landwirt) erlernt, Familie gründet — und zu schreiben beginnt. Er wird sich stets um die „Balance dieser permanent fluktuierenden Dimensionen“ bemühen, „ohne mich eindeutig auf eine derselben festlegen zu können“.

Naturgemäß nimmt die Beschäftigung mit dem südamerikanischen Leben den breitesten Raum in Schopflochers Erinnerungen ein. Er wächst hier zu einem wachsamen Zeitzeugen heran, beobachtet die demokratischen Bemühungen und ständigen diktatorischen Rückschläge, Korruption und Terror gehören zum Alltag; hier wird er aber auch mitarbeiten an vielen Projekten, in denen geflüchteten Juden ein neuer Anfang ermöglicht wird.

Dass ihn die Geschichte einholt, registriert er mit Sorge, aber auch mit Mut zum Widerstand: fernab von Hitlers Deutschland trifft man in Argentinien auf geflohene Nazis, die unverhohlen den Neuanfang proben. Das Land bleibt bis heute für ihn ein unberechenbares Quartier. Doch wieder ist es die Hoffnung, die ihn leitet. In einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung schrieb Schopflocher kürzlich: „Die Utopie, dass die argentinische Einwanderungsgesellschaft ein zukunftssicheres Modell des Zusammenlebens entwickelt, ist noch lange nicht verloren.“

Robert Schopflocher: Weit von wo – Mein Leben zwischen drei Welten. Langen/Müller-Verlag, München. 280 Seiten, 19,95 Euro.