"Die Ungleichheit in der Gesellschaft sorgt für sozialen Sprengstoff"

2.2.2020, 21:19 Uhr

© Foto: Marco Puschner

Truger ist im Gremium der Wirtschaftsweisen, das offiziell "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" heißt, seit 2019 als Vertreter der Gewerkschaften Nachfolger von Peter Bofinger. Der eckte dort regelmäßig an mit seiner Haltung, dass der Staat regulierend in den Wirtschaftskreislauf eingreifen müsse und der Markt nicht alles regle. Inzwischen, sagt Truger, habe in dem Gremium aber ein "Umdenken stattgefunden". Das zeige schon der Titel des Jahresgutachtens 2019/20: "Den Strukturwandel meistern." Es sei mittlerweile Konsens, dass man konjunkturelle Probleme durchaus über arbeitsmarktpolitische Instrumente, wie etwa Kurzarbeit, angehen könne.

Gleichwohl erinnert Truger in seinem Vortrag an die frühere Denkweise der Mehrheit der Wirtschaftsweisen. "Traditionell hatte der Sachverständigenrat eine sehr eindeutige Position." Es sei darum gegangen, eine "Entfesselung der Wirtschaft über Entlastungen" zu erreichen – je weniger Regeln, je weniger Sozialstaat, desto produktiver könnten die Unternehmen arbeiten. "Gewerkschaften sind da eher hinderlich." Doch diese neoliberale Haltung sei heute "nicht mehr salonfähig", das zeige sich auch an der Themenauswahl des aktuellen Gutachtens des Sachverständigenrats, in dem es zum Beispiel um Industrie- und Innovationspolitik gehe.

Ihren Höhepunkt habe diese nunmehr überholte Geisteshaltung ausgerechnet in den Jahren der rot-grünen Bundesregierung erlebt, als die Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Wirtschaft und die Spitzenverdiener mit massiven Steuersenkungen bedachte und damit aber dafür sorgte, dass es in den kommunalen Verwaltungen wegen Geldmangels zu enorm schmerzhaften Kürzungen kam. Die Folgen wirkten noch heute nach, sagt der 50-jährige Wirtschaftswissenschaftler.

Truger verweist auf Berechnungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) sowie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), wonach die öffentlichen Investitionsbedarfe in Deutschland für die kommenden zehn Jahre bei 457 Milliarden Euro liegen. Darin enthalten sind zum Beispiel Maßnahmen für die kommunale Infrastruktur und den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, die bei 158 Milliarden Euro liegen, und 15 Milliarden für den Wohnungsbau. "Jährlich sind das 45 Milliarden Euro, was einem 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht." Der Professor glaubt, dass dies zu schaffen ist.

Allerdings, und hier weicht Truger gemeinsam mit der Kollegin Isabel Schnabel dann doch von der Mehrheitsmeinung im Sachverständigenrat ab, sei hierfür ein flexiblerer Umgang mit der in der Verfassung verankerten Schuldenbremse nötig. Truger plädiert für die Einführung beispielsweise einer Innovationsagentur, die mit einem "Extrahaushalt" arbeiten kann und auch Schulden machen darf.

Truger hat noch in drei anderen Punkten Minderheitenvoten formuliert. Unter anderem plädiert er zum Beispiel dafür, die Verteilungsfrage anzugehen, obschon die Kollegen im Gremium hier keinen Handlungsbedarf sehen. Die Entlastungen für Reiche – zum Beispiel durch die Aussetzung der Vermögensteuer – sind Truger zufolge insofern hochproblematisch, weil die Ungleichheit in der Gesellschaft für "sozialen Sprengstoff" sorge. Auch den breiten Niedriglohnsektor kritisiert der Professor, der für eine Anhebung des Mindestlohns und eine Stärkung der Tarifbindung plädiert.

In diesen Punkten ist er sich einig mit Stephan Doll, dem Regionschef des mittelfränkischen DGB. Doll gibt in seiner Rede zu bedenken, dass bei 38 Prozent atypischer Beschäftigung in Nürnberg (also zum Beispiel Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse) das Normalarbeitsverhältnis irgendwann zur Ausnahme werden könnte. Auch Doll plädiert für öffentliche Investitionen, etwa in den Nahverkehr, und sozialen Ausgleich.

Truger sagt in seiner Rede, dass Deutschland konjunkturell am Scheideweg stehe, angesichts der weltwirtschaftlichen Entwicklung drohe ein Abgleiten in die Rezession. "Aber mit gestaltender Politik kann man das in den Griff bekommen."

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