Fliehen oder spielen?

13.5.2020, 19:18 Uhr
Eine echte Entdeckung: Mit „Flieh oder spiel“ ist Wiltrud Weltzer ein beeindruckender Debüt-Roman gelungen.

© Foto: Udo Güldner Eine echte Entdeckung: Mit „Flieh oder spiel“ ist Wiltrud Weltzer ein beeindruckender Debüt-Roman gelungen.

Und es ist kein Zufall, dass ein 13-jähriger pubertierender Junge im Mittelpunkt der atemberaubenden Erzählung steht: Dominic ist ein sensibles, musikalisch hochbegabtes Kind, das eine rasante Entwicklung nimmt. Stets in dem Wunsch, anerkannt zu werden. Von einem Vater, der Götze heißt, und den er vergöttert. Der ihn aber nicht zur Familie zählt. Weil Dominic das ungewollte Ergebnis einer Liebesaffäre mit einer früheren Studentin des Professors ist. Von einer Stiefschwester, die ihn mit offenem Hass begegnet. Nur sein Cello-Lehrer, zugegebenermaßen nicht mit Dominic verwandt, glaubt an ihn, nimmt ihn ernst, fördert ihn. Er wird ihm, das sei bereits verraten, dadurch das Leben retten. Obwohl Gustav Mahlers Lied "Ich bin der Welt abhandengekommen" erklingt und Dominic bereits das Messer in Händen hält...

Im Hintergrund deutet Weltzer nämlich an, was passieren kann, wenn Dominic sein Leben nicht in den Griff bekommt. Er könnte wie jener Olaf, über den nie gesprochen wird, und wenn dann nur als "schwarzes Schaf" der Familie, als "Versager" und "Schande", ein nasses Grab in der Donau finden. Unbeweint und vergessen. Die Autorin setzt nun alles daran, dass dieses Schicksal den ausgestoßenen Jungen nicht ereilt. Wie ihr das gelingt, mit welcher Eleganz, welcher Inspiration, welcher Empathie, das muss der Leser selbst erleben. Die Zerrissenheit im Inneren Dominics spiegelt sich im Äußeren gleich mehrfach. Zum einen finden die einzelnen Familienmitglieder keine emotionale Nähe zueinander. Augenscheinlich wird es auf Fotografien, die sie nicht als Gemeinschaft zeigen. Zum anderen leben sie auch geographisch weit verstreut in Augsburg, München, Hamburg und Lübeck. Die Auswahl der Orte mag willkürlich wirken. Doch wie Weltzer im Gespräch erzählt, kennt sie den Friedhof in Augsburg von der Beerdigung ihrer Patentante ebenso wie das Elbufer in Hamburg, wo ihre Tochter einst studiert hatte.

Das mitreißend geschriebene Buch hat aber auch noch eine tieferliegende philosophische Seite. Die reicht bis zu Martin Buber, dessen Schrift "Ich und Du" auf den Gegensatz von Begegnung und Vergegnung verweist. Die treibende Kraft im Roman ist Dominics Stiefschwester Meike, die mit ihm nicht auf Augenhöhe begegnet, ihn nicht als gleichwertigen Menschen anerkennt, keine irgendwie geartete Beziehung zu ihm eingehen, ja schlimmer noch: sich nicht für den Anderen öffnen möchte. Es kommt kein Dialog zustande, nur Monologe prallen aufeinander. Es bleibt ein Aneinander-Vorbeigehen.

Die Musik ist es, die sich wie eine unendliche Melodie durch die Seiten weht. Natürlich die klassische, die Weltzer von Kindesbeinen an kennen und lieben gelernt hat. Die Klänge sind es, die Dominic die Flucht in eine andere Welt ermöglichen. Ein Paradies ohne Geringschätzung, Zurückweisung und Demütigung. Obwohl es zunächst die innige Zweisamkeit mit nur einem Instrument ist.

Das Cello wird sein bester Freund, ja seine Stimme, die seinen Gemütszustand hörbar werden lässt. Da ist der Wunsch nach Harmonie und Halt wie in Johann Sebastian Bachs Cello-Suiten. Da sind traurige Gedanken vom Verlust wie in Franz Schuberts Liederzyklus "Die schöne Müllerin". Bis hin zur erschütternden Vertonung des David-Psalms 137 durch Heinrich Schütz, in dem es heißt: "Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein."

Mitunter mischen sich tatsächlich biographische Elemente in die Geschichte. Etwa wenn die Autorin die Atmosphäre im Internat des Windsbacher Knabenchores schildert. Dann kommen Erinnerungen aus der Zeit nach oben, als ihr Ehemann dort sieben Jahre lang die Leitung hatte. Da habe sie mitunter mit den kleinen Kindern mitgelitten, die fern der Familie lebten und deren Weinen immer wieder zu hören gewesen sei. Insgesamt sei es aber eine frei erfundene Geschichte, die sich aus den Erfahrungen eines langen, erfüllten Lebens speise. Als Leser darf man daran teilhaben.

Wiltrud Weltzer: "Flieh oder spiel", 284 Seiten, 10,99 Euro, ist im Buchhandel oder direkt bei der Autorin unter der Telefonnummer (091 91) 56 50 erhältlich.

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