Immunsystem aus der Übung?

RS-Virus und Influenza grassieren: Kinderärzte im Landkreis Neumarkt sind am Limit

Philip Hauck

Redakteur

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19.12.2022, 06:00 Uhr
Das RS-Virus kann für Säuglinge problematisch sein, weil sie dagegen keinen Nestschutz haben. Das Virus befalle die unteren Atemwege und erschwere so den Sauerstofftransport ins Blut. Wenn ein Säugling hustet und schwer atmet, ist das ein Alarmsignal.

© Marijan Murat, dpa Das RS-Virus kann für Säuglinge problematisch sein, weil sie dagegen keinen Nestschutz haben. Das Virus befalle die unteren Atemwege und erschwere so den Sauerstofftransport ins Blut. Wenn ein Säugling hustet und schwer atmet, ist das ein Alarmsignal.

Was für Erwachsene meist nur einen Schnupfen bedeutet, kann für Säuglinge und Kleinkinder lebensbedrohlich werden: das Respiratorischen Synzytial-Virus (kurz RS-Virus). Heuer schlägt es besonders heftig zu.

RSV grassiert in jedem Jahr, doch in diesem Herbst registrieren die Kinderärzte einen besonders heftigen Start der Epidemie. In den Praxen klingeln die Telefone pausenlos, hundert Anrufe, bis Eltern durchkommen, sind keine Seltenheit. "Wir laufen am Limit, wir haben viele kranke Kinder", teilen die Sprechstundenhilfen landauf, landab am Telefon mit. Fast unmöglich, einen Kinderarzt oder eine Kinderärztin zu sprechen.

Kinderkliniken sind voll

In den Praxen schlagen überwiegend Patienten mit Atemwegsproblemen auf, nicht wenige davon bekommen "RSV" diagnostiziert. Wenn es dem Kind sehr schlecht geht und die Kinderärztin nicht mehr weiterhelfen kann, weist sie die kleinen Patienten in die Kinderklinik ein.

Was alles andere als leicht ist, denn die Kinderkliniken in der Region sind voll. "Wir sind am Limit mit unseren Behandlungsplätzen", sagt Chefarzt der Kinderheilkunde Professor Christoph Fusch. Er ist der ärztliche Leiter der Klinik für Neugeborene und Kinder am Klinikum Nürnberg und betreut auch die Außenstelle Neumarkt.

Fusch stimmt sich regelmäßig mit seinen Kollegen in Neumarkt, Fürth, Erlangen und an der Cnopfschen Kinderklinik in Nürnberg über freie Kapazitäten ab. Doch die Lage ist überall extrem angespannt. Allein am Südklinkum sind es 20 kleine RSV-Patienten, die Cnopfsche ist ausgebucht, auch in Neumarkt sind alle betreibbaren Betten belegt. Die Konsequenz: Lange Wartezeiten in der Notaufnahme und provisorisch aufgestellten Pritschen auf der Kinderstation.

Viel Influenza, wenig Corona

Nicht nur das RS-Virus breitet sich derzeit wie ein Lauffeuer aus. Auch die Influenza-Welle schwappt mit voller Wucht über den Landkreis Neumarkt. Corona macht laut Robert-Koch-Institut nur einen geringen Anteil aus. Die Gesamtrate der akuten Atemwegs­erkrankungen liegt zur Zeit „deutlich über dem Bereich der Vorjahre und hat damit das Niveau erreicht, das zum Höhe­punkt der schweren Grippe­welle in der Saison 2017/18 beobachtet wurde“. Damals gab es zuletzt eine schwere Grippewelle, in deren Verlauf rund 25.000 Menschen starben.

Die außergewöhnlich stark ausgeprägte Erkältungswelle hat auch zur Folge, dass Kindergartengruppen und Schulklassen stellenweise wie leergefegt sind. Am Willibald-Gluck-Gymnasiums Neumarkt fehlen 200 von insgesamt 1300 Schülern, das sind über 15 Prozent. Noch übler erwischt hat es die Kids an der Theo-Betz-Grundschule, dort kurierten sich in der Spitze 80 von 360 Schülern zuhause aus.

Auch Lehrer und Erzieher fangen sich Husten, Schnupfen und Co. ein. Manchen Klasse, beispielsweise an der Erich Kästner Schule Postbauer-Heng, werden wegen Personalmangel nach vier Stunden schon nach Hause geschickt. Kindergärten kämpfen ebenfalls mit einem hohen Krankenstand und bitten die Eltern, kranke Kinder auf jeden Fall zuhause zu lassen, um die Ansteckungsgefahr gering zu halten.

Warum sind so viele krank? Es liegt nicht an den Masken

Woran liegt es, dass derzeit besonders viele Menschen heftig erkältet sind? Ist das Immunsystem aus dem Training geraten? "Nein", sagt Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI). Das Immunsystem funktioniere nicht wie ein Muskel, der schwächer wird, wenn man ihn weniger benutzt.

Allerdings ist es durch die Pandemie zu einem Rückstau von bestimmten Infektionen gekommen. Denn mit einigen Erregern, darunter Erkältungsviren, infizieren wir uns in unserem Leben immer wieder. Das liegt daran, dass die Immunität nach einer Infektion nicht allzu lange hält. Viele Infektionen werden also infolge der fallenden Corona-Regeln nachgeholt.

RS-Virus nimmt zwei Jahrgänge ins Visier

Auch beim für Kinder gefährlichen RS-Virus liegt es nicht an vermeintlich geschwächten Immunsystemen. "Es ist einfach die erste Infektion mit dem Virus, das jetzt zwei Jahrgänge trifft", so der Mediziner. Indirekt sind die Corona-Beschränkungen also sehr wohl mit der Grund für die hohe Zahl an Krankheitsfällen.

Angesichts der überfüllten Arztpraxen und Krankenstationen sind viele Eltern in Sorge. Was ist, wenn es meinem Kind schlecht geht? Wann sollte ich zum Arzt, wann kann ich es zuhause aussitzen? Professor Christoph Fusch beschreibt die oftmals auftretenden Symptome einer RS-Virus-Infektion so: Kinder haben tagelang hohes Fieber, das sich kaum oder nur schwer senken lässt. Sie atmen kurz und schnell, keuchen manchmal wie Asthmatiker.

Er empfiehlt Eltern, auf ihren Instinkt zu hören: Wenn es dem Kind ungewohnt schlecht geht, dann sollte es einem Kinderarzt vorgestellt werden. Je kleiner das Kind, desto wahrscheinlicher ist es zurzeit an RSV erkrankt.

Meist heilt eine RSV-Infektion folgenlos aus

Die gute Nachricht: In den meisten Fällen verlaufen die Atemwegsinfektionen wie eine Erkältung. Selbst wenn ein Kind im schlimmsten Fall im Krankenhaus zwei, drei Tage lang Sauerstoff braucht, ist die Prognose gut. Eine RSV-Infektion heilt in der Regel folgenlos aus.

RSV ist nicht meldepflichtig und daher nicht detailliert in Zahlen erfasst. Eine Behandlung, außer die symptomatische, gibt es nicht. Gefährlich kann eine Infektion dagegen für ehemalige sehr kleine Frühgeborene sowie Kinder mit Vorerkrankungen werden. Hier raten Ärzte zu einer Antikörper-Immunisierung.

Im Internet haben Eltern eine Petition gestartet, die bereits über 80.000 Unterschriften hat. Sie ist an Gesundheitsminister Karl Lauterbach adressiert und fordert schnelles Handeln, um den Personalmangel in Kliniken und die Medikamentenknappheit zu beheben.

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