"Nähe ist so wichtig"

So erleben Angehörige den Corona-Lockdown im Altenheim

Hauke Höpcke

Neumarkt

E-Mail zur Autorenseite

7.2.2021, 17:27 Uhr

Ein schwerer Corona-Ausbruch in einem Seniorenheim ist der Alptraum für Bewohner, Mitarbeiter und die Angehörigen. Nirgendwo sonst fordert das Virus so viele Opfer wie dort.

Die Hälfte der Corona-Toten in Deutschland bis zum August lebte in Seniorenheimen. Das hat die Universität Bremen herausgefunden. Es gibt also gute Gründe, die Einrichtungen zu schützen.

Doch die Abriegelung beim ersten Lockdown und die damit verbundene Isolation hat Bewohner und ihre Angehörigen schwer belastet.

So wie Johanna Stehrenberg. Die langjährige grüne Stadträtin hatte im Frühjahr nicht mehr kandidiert. Auch weil sie mehr Zeit für ihre Mutter haben wollte. Ob sie über ihre Erfahrung sprechen möchte? Schließlich ist es ein sehr persönliches Thema, anders als Grünordnung, Parkplätze oder Bauanträge. "Ja sicher! Wenn du es erträgst, dass ich vielleicht auch mal dabei weine." Es wurde dann doch ein recht fröhliches Gespräch über ein ernstes Thema. Am großen Küchentisch. Mit fast zwei Meter Distanz. Ohne Maske.

"Am schlimmsten war die Zeit, als niemand von außen hineingehen durfte", erzählt Stehrenberg. Kontakt hatten sie trotzdem. Tochter Johanna stand mit ihrem Hund Bonny im Hof, die Mutter auf dem kleinen Balkon ihres Zimmers. "Jedesmal, wenn ich heimging, kam es mir vor, als ob wir sie im Gefängnis zurücklassen."

Die beiden Frauen haben zwar viel telefoniert. Doch ein Telefonat könne das persönliche Gespräch niemals ersetzen. "Eine Stimmung überträgt sich ganz anders, wenn man zusammen ist, die Bewegungen, das Gesicht des anderen sieht."

"Für mich hatte sich eigentlich nicht viel geändert, für meine Mutter alles."

Mittlerweile darf Stehrenberg ihre Mutter wieder besuchen. Eine Stunde täglich; werktags zwischen 15 und 18 Uhr und am Wochenende zwischen 15 und 17 Uhr. Für Stehrenberg, die halbtags in der Hämatologischen und Onkologischen Praxis am Klinikum arbeitet, reicht der enge Zeitkorridor aus.

"Doch was machen Menschen, die voll berufstätig sind oder Schichtarbeiten wie etwa die Krankenschwestern?", fragt die 63-Jährige. "Normal" sind diese Treffen noch immer nicht. Nur eine genau festgelegte Person darf in das Zimmer. Sie muss Mund-Nasenschutz tragen und soll Abstand halten.

Andere Angehörige, Freunde oder Bekannte dürfen nur – selbstverständlich einzeln – in den Besucherraum. In der Kapelle, wo wegen Corona keine Andachten stattfinden können, sind dafür fünf Tische aufgestellt worden.

Die Angehörigen stehen unter Druck

"Eine Stunde ist sehr kurz. Man steht unter einem inneren Druck. Nach einer Dreiviertelstunde beginnt man auf die Uhr zu schauen, verabschiedet sich dreimal, um dann doch noch etwas zu besprechen." Einmal wurde sie angerufen von der Pforte, weil die Zeit zu lange überzogen war.

"Es ist so wichtig, dass Menschen Nähe spüren." Auf die Pflegekräfte im Heim lässt Stehrenberg nichts kommen. Im Gegenteil: "Sie versuchen ihr Möglichstes, sind aber nicht mehr geworden als vor der Pandemie. Für viele Gespräche fehlt ihnen tagsüber die Zeit. Erst abends ist die Luft dafür."

Es bleibt also ein ungutes Gefühl, die Unzufriedenheit mit sich selbst, weil man die verbleibende Zeit mit der Mutter nicht nutzen kann, sich so um sie kümmern kann, wie es eigentlich richtig wäre. "Nähe ist so wichtig." Um so größer ist die Furcht, bald wieder keinen persönlichen Kontakt haben zu dürfen.

Natürlich könne man nicht die Altenheime vollständig öffnen und allem seinen Lauf lassen, sagt sie. Doch dürfe man die Bewohner, von denen fast alle betagt sind, die meisten an mehreren Krankheiten leiden oder schwer dement seien, wirklich mit sich alleine lassen, abschneiden von den verbliebenen Kontakten?

Angst vor dem Sterben hat jeder Mensch ob alt oder jung

Eine Frage, die sie auch nicht beantworten kann – denn in diesem letzten Abschnitt des Lebens sind Risiken und Sorgen etwas anders gewichtet. "Angst vor dem Sterben hat jeder Mensch ob alt oder jung", sagt Stehrenberg. "Aber vor dem Totsein fürchten sich die wenigsten. Den Verlust müssen die Angehörigen bewältigen."


Am 17. November ist die Mutter von Johanna Stehrenberg gestorben. "Sie hatte keine Schmerzen und war keine Sekunde allein - das war mir wichtig! Jetzt ist endlich ihr großer Wunsch, sterben zu dürfen, in Erfüllung gegangen! Mir geht es unterschiedlich: Mal spüre ich eine große Erleichterung, dass sie erlöst ist. Aber sie fehlt mir auch und hoffe sehr, sie eines Tages wiederzusehen."

Zwei Wochen später kam es zu einem Corona-Ausbruch in St. Johannes. Das Heim steht unter Quarantäne. Es dürfen keine Besucher dort hinein. "Bin so froh, dass es ihr erspart geblieben ist, noch mal wieder in ihrem Zimmer 'eingesperrt' zu sein! Alle im St. Johannes-Altenheim waren immer so gewissenhaft im Umgang mit Corona! Und trotzdem hat es nichts genützt!"

Keine Kommentare