"Und dann sausten alle in den Keller"

23.2.2020, 09:52 Uhr

© Foto: Archiv

Der Tag, als die Bomber kamen: Das war Freitag, der 23. Februar, vor 75 Jahren. Der Zweite Weltkrieg sollte in Deutschland nicht mehr lange dauern, das Land lag im Feuersturm. US-Amerikaner, Engländer, Franzosen und Russen kämpften das blutige Nazi-Regime nieder.

Zwölf Jahre hatte das 1000-jährige Reich nur gedauert und die sollten bald zu Ende gehen. Mit einem noch nie dagewesenen Bombenhagel trieben die Alliierten den Nazis die Hybris vom überlegenen Arier aus. Das kleine Landstädtchen Neumarkt geriet in diese Feuerwalze – und ging unter.

Wobei: Neumarkt war zwar ein kleines Landstädtchen, aber es war ein deutsches kleines Landstädtchen. In dem die Nationalsozialisten nach 1933, nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler, den Ton angaben. Es gab ab dem 28. Mai 1942 keine jüdischen Neumarkter mehr; wenige hatten ins Ausland fliehen können, die meisten kamen in den Konzentrationslagern der Nazis in Osteuropa ums Leben. Einzig Ernst Haas überlebte die Shoah, doch erst viele Jahrzehnte später war wieder so etwas wie eine Annäherung möglich, kam er zurück nach Neumarkt.

Ernst Haas ist im August 2016 im Alter von 91 Jahren verstorben. So wie er gehen immer mehr Zeitzeugen, die sich an das Geschehen vor nun 75 Jahren und davor erinnern können.

Rainer Krüninger, der erste Lokalchef der Neumarkter Nachrichten, später stellvertretender Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten und Autor des Bandes "Die Zerstörung Neumarkts 1945", der im Jahr 2000 vom Historischen Verein heraus gegeben worden ist, hat seinerzeit in akribischer Kleinarbeit noch einmal alle Zeitzeugen interviewt, freigegebenes Material aus US-Archiven ausgewertet und den Untergang Neumarkts fundiert dargestellt. Er sprach mit zahllosen Zeitzeugen, trug zusammen, was diese noch wussten. So wie Rainer Krüninger leben viele von ihnen heute nicht mehr.

© Foto: Wolfgang Fellner

Aber es gibt sie noch: Philomena Heinloth, Jahrgang 1931, erinnert sich gut an ihre Jungmädchen-Tage im ausgehenden Dritten Reich. An ihren Vater, eine Respektsperson, der auch vor den Nazis nicht kuschte. Weil er ein schwer Kriegsversehrter war, der mit einem Herzschaden von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges zurückgekommen war. "Wir Kinder haben keine Uniform getragen, so wie die bei der HJ oder dem Bund deutscher Mädels, das hat der Vater nicht zugelassen", sagt sie heute noch stolz.

Trotzdem ging der Krieg auch an ihrer Familie nicht vorüber. In der Erinnerung verschwimmt vieles, wird undeutlich, aber an den ersten Bomberangriff auf Neumarkt erinnert sich Mina Heinloth noch heute: "Ich war im Schlafzimmer der Eltern und schaute aus dem Fenster, als die Bomber über den Wolfstein angeflogen kamen. Ich sah noch die Bomben fliegen und dann sausten schon alle in den Keller."

Die Bomben galten dem Neumarkter Bahnhof, einem Verkehrsknotenpunkt. Was dort passierte, weiß Mina Heinloth aus Erzählungen. Aber, erinnert sie sich: "Vorher standen wir immer auf der Altdorfer Straße und schauten zu, wie die Bomber über Nürnberg flogen. Sie setzten Christbäume ab und bombardierten die Stadt. Das Feuer haben wir von Neumarkt aus gesehen." Christbäume hießen die Rauchbomben, mit denen tieffliegendere Jagdflieger für die Bomberbesatzungen das Zielgebiet markierten.

Diesmal war es anders, war Neumarkt mitten drin. Die zweite Bombardierung im April hat die damals Dreizehnjährige aus der Ferne erlebt: Die Familie war in die Schmermühle geflüchtet.

Der Vater hatte im ersten Stock ein Bett bekommen, der Rest der großen Familie – Mina Heinloth hatte acht Geschwister – war ebenerdig untergebracht. Gut ging es allen nicht, in beengten Verhältnissen galt es, über die Runden zu kommen. Doch das taten sie.

Einer ihrer Brüder fiel. Doch das wollte das Regime erst so nicht zugeben. Karl Eibner war von der Marine begeistert. Zuhause in Neumarkt, erinnert sich seine Schwester, hat er den KDF-Vorzeigedampfer Robert Ley als Modell nachgebaut, "wie in echt". Also hat er sich zur Marine gemeldet und landete auf einem U- Boot. Bei einem Heimaturlaub plagten ihn schon arge Befürchtungen, erinnert sich Mina Heinloth, denn sein Kapitän war ein junger Draufgänger. Und er ging denn auch drauf, samt seiner Matrosen und dem Boot. Beim ersten Einsatz versenkt.

"Vermisst" stand im Schreiben der Nazis an die Familie. Doch das ließ Vater Eibner nicht gelten. "Wir haben ihn ins Leiterwagerl gesetzt und in die Stadt gefahren", erinnert sich Mina Heinloth. Mit seinem Gehstock mit Stahlspitze habe er aufs Pflaster geschlagen, dass "die Funken stieben". Am Ende schrieb er sogar zornig ans Kriegsgericht, dass dieses ehrlich sein solle und eingestehe, dass der Sohn gefallen sei. Das geschah.

Der Krieg war noch nicht richtig zu Ende, als ihr Vater starb. Das war in den Tagen, ehe die Amerikaner von Altdorf kommend über die Altdorfer Straße Richtung Altstadt vorrückten.

Was die Lage besonders brisant machte: In der Lorenz-Hiltner-Straße hatte eine Frau auf die einrückenden Amerikaner geschossen; diese gingen rigoros vor, um keine Verluste zu erleiden. "Die sind mit den Panzern gekommen und haben die Kanonen auf die Häuser gerichtet, die sie alle durchsuchten", erinnert sich Mina Heinloth.

Bei ihnen zuhause standen im Flur noch die Kränze für den eben erst verstorbenen Vater. "Ein US-Soldat hat die Kränze gesehen und ist gleich wieder raus. Da sind der Panzer und alle Soldaten gleich weiter."

Wobei auch das Elternhaus in der Altdorfer Straße nicht unbeschädigt blieb bei den Angriffen auf Neumarkt. "Im Haus war ein Riesenloch, in der Küche alles voller Splitter", erinnert sich die 88-Jährige. Doch damit war die Familie noch glimpflich davongekommen.

Beim ersten Bomberangriff auf Neumarkt, der dem Bahnhofsareal galt, hatte es über 400 Tote gegeben. Jener Freitag, der 23. Februar, war ein sonniger Vorfrühlingstag. Bei 20 Grad in der Sonne hätte man den Krieg vergessen können, heißt es bei Rainer Krüninger, "der trotz aller Propagandalügen des großdeutschen Rundfunks immer näher rückte".

Aber: Es herrschte der Glaube, dass Neumarkt neben dem großen Nürnberg, das als Stadt der Reichsparteitage ständig attackiert wurde, einfach übersehen wird. Niemand ahnte, dass die alliierten Luftstreitkräfte eine Bomberoffensive vorbereitet hatten, die bereits am 22. Februar angelaufen war und einen Tag später ihren ersten Höhepunkt erreichen sollte. Die Operation "Clarion", bei der rund 10 000 Flugzeuge eingesetzt wurden, sollte die deutschen Verkehrswege treffen und die Bevölkerung demoralisieren.

Nach Ansbach kam Neumarkt an die Reihe: "Ich hab' noch die Bomben purzeln sehen", erinnerte sich Karl Müller später. Schon bebte die Erde und die Vernichtung des Bahnhofsviertels begann. Um 11.15 Uhr heulten die Sirenen, um 11.20 Uhr öffneten sich die Bombenschächte der 74 Maschinen vom Typ B 17. In drei Wellen krachten 845 so genannte 250- Kilo-Mehrzweckbomben auf das Areal zwischen Bahnhof, Galgenhügel und Ingolstädter Straße.

Sie trafen Bahngebäude, Gleisanlagen, vor allem den Güterbahnhof, abgestellte Waggons und Lokomotiven. Die Expresswerke und die Holzfirma Hauck und Lang wurden durch Volltreffer zerstört, die zwei Kessel des Gaswerks explodierten. Der Boden wankte und zitterte, Trümmer flogen hoch in die Luft, Splitter regneten über die halbe Stadt. Selbst in zwei Kilometer Entfernung wackelten die Wände.

Kaum war der Angriff vorbei, rückten Hilfstruppen aus, um vor allem die vielen verschütteten Menschen, die im Splittergraben vor dem Bahnhof, in den kleinen Bunkern, in den Kellern der Häuser eingeschlossen waren, zu retten. Der inzwischen verstorbene Richard Knerler kletterte mit seinen Freunden über Steine, verbogene Gleise, durch Trichter, um sich zu den dumpfen Schreien durchzukämpfen, die aus der Erde kamen. Im Splittergraben waren an die 100 Menschen eingeschlossen und drohten, zu ersticken.

Knerler buddelte mit einigen Freunden einer jungen Frau und einem kleinen Mädchen im Splittergraben Kopf und Brustkorb frei, damit sie wenigstens atmen können. "Wir haben noch mit ihnen geredet, haben gesagt, wir kommen zurück, weil wir noch andere retten wollen." Als er nach ein paar Minuten wieder an der Stelle war, sind beide tot, erdrückt von den nachrutschenden Erdmassen.

Der große Kessel des Gaswerks hatte bei der Explosion einen ungarischen Flüchtlingszug in Brand gesetzt. Die meisten seiner Insassen, ungarische Pfeilkreuzler, die den Nazis blutig zugearbeitet hatten, und ihre Familien hatten im Deckungsgraben Schutz gesucht, der ihnen zum Grab wurde.

Nur acht Personen wurden lebend geborgen, von denen vier später noch starben. Eine Bombe war ins Italiener-Lager am späteren Stellwerk I eingeschlagen und hatte die in den Baracken hausenden und bei der Bahn arbeitenden Männer begraben.

An den nächsten beiden Tagen wurden nur noch Tote geborgen. Eine Woche später fand auf dem Neumarkter Friedhof die große Trauerfeier statt, zu der sich fast die gesamte Bevölkerung versammelte.

Während in anderen Städten noch von Hass, Rache und Endsieg gefaselt wurde, waren in Neumarkt von den Parteibonzen keine großen Sprüche mehr zu hören, schreibt Rainer Krüninger. Sie ahnten wohl, dass dieser Bomberangriff der Anfang vom Ende war. Doch wie schrecklich dieses Ende werden wird, das konnte sich zu diesem Zeitpunkt niemand vorstellen.

Keine Kommentare