Kleine Sensation aus der Treuchtlinger Nazi-Zeit

21.4.2017, 06:07 Uhr
Kleine Sensation aus der Treuchtlinger Nazi-Zeit

© Patrick Shaw

Manchmal hilft Kommissar Zufall bei der Aufarbeitung wichtiger Themen. So auch in diesem Fall. Eigentlich recherchierte unsere Zeitung aus aktuellem Anlass zur Historie der drei ehemaligen Treuchtlinger Kinos. Dazu lieferte Werner Baum senior, der sich intensiv mit der Geschichte der Altmühlstadt beschäftigt, einen interessanten Hinweis. Demnach ist das älteste Kino das „Lichtspiel Union“, das einst in der Fischergasse stand und später in „Capitol“ umbenannt wurde.

Das war allerdings nicht die Sensation – vielmehr die Quelle. Werner Baum hatte seine Information nämlich aus einem Archivband des Treuchtlinger Kuriers (TK) aus dem Jahr 1942, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschollen war. Diesen brachte Baum zu einem Gespräch in unsere Redaktion mit – wo erst auffiel, dass der Band aus dem TK-Archiv stammt. Auch der Finder wusste dies bis dato nicht.

Baum hatte die gebundenen alten Zeitungen, die die Monate April bis Juni 1942 enthalten, vor dem Altpapiercontainer gerettet. Dort wollte sie jemand aus dem Umfeld des ehemaligen Treuchtlinger Bürgermeisters Andreas Güntner eigentlich entsorgen.

Der Fund hat folgenden geschichtlichen Hintergrund: Nachdem die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland die Macht übernommen hatten, installierten sie an allen Schaltstellen ihre Leute. So auch in Treuchtlingen. Andreas Güntner wurde am 12. Oktober 1933 als Bürgermeister eingesetzt, nachdem er zuvor schon gewähltes Stadtratsmitglied für den „Völkischen Block“ und die NSDAP gewesen war.

Die immerhin zwölf Jahre, in denen Güntner die Stadt „führte“, waren die dunkelsten ihrer Geschichte. In diese Zeit fielen die Übergriffe in der Reichspogromnacht 1938, die Vertreibung und Ermordung der Treuchtlinger Juden und am Ende die zwei schweren Bombenangriffe auf die Altmühlstadt mit fast 600 Toten.

Es ist überliefert, dass die Nazis in den letzten Kriegstagen, als die amerikanische Armee immer näher rückte, auch in Treuchtlingen die Archive „säuberten“. Davon war zunächst das städtische Archiv betroffen. So fehlen hier bis heute praktisch alle Bände des Zeitungsarchivs aus der Nazizeit. Es ist davon auszugehen, dass sie vernichtet wurden. Und auch das TK-Archiv ist deutlich ausgedünnt. Die örtlichen NS-Protagonisten ahnten wohl, dass sie für ihre Machenschaften zur Rechenschaft gezogen würden. Und so entfernten sie das Beweismaterial.

Propaganda – damals und heute

Warum genau der betreffende Band aus dem Jahr 1942 aus dem TK-Archiv gestohlen wurde, muss noch recherchiert werden. Eine erste Sichtung ergibt aber ein klares Bild der damaligen Propaganda, und es werden viele Namen örtlicher NS-Funktionäre genannt. Besonders perfide ist die ideologische Indoktrination der damaligen Kinder und Jugendlichen, wie zum Beispiel der flammende Aufnahme­appell für die zehnjährigen „Pimpfe“ und Jungmädel in die Hitlerjugend am Vorabend des „Hitler-Geburtstags“. Angesichts derartiger Aufrufe konnten sich die Brandstifter kaum aus ihrer Verantwortung winden.

Kleine Sensation aus der Treuchtlinger Nazi-Zeit

© TK-Archiv

Bedrückend wird auch klar, wie breit die Nazis die Gesellschaft unterwandert hatten. Allein die Vielzahl der NS-Gruppen, die in Treuchtlingen fast täglich aktiv waren, belegt die Durchdringung. So gab es unter anderem eine HJ-Fliegerschar, eine HJ-Motorschar, eine HJ-Bergfahrtengruppe und die HJ-Gefolgschaft. Daneben waren die NS-Frauenschaft aktiv, eine Mädel- und eine Jungmädelgruppe, ein Fähnlein des Deutschen Jungvolks, eine Musikschar und die NS-Kameradschaft.

Beim Blick auf die damalige Zeit drängen sich Vergleiche zu Geschehnissen heutzutage auf. Zur Begeisterung im Deutschen Reich, dem Nationalstolz und den Instrumenten, mit denen die Machthaber ihre Macht organisierten, gibt es durchaus Parallelen in Ländern, die gar nicht weit entfernt sind – zum Beispiel der Türkei.

Einer der ersten Akte bei der Vorbereitung eines totalitären Regimes ist stets die „Gleischaltung“ der Presse. In Treuchtlingen wurde das bereits 1939 erledigt. Im Jahr 1942 – dem Jahr des verschollenen Archivbands – war der TK bereits gleichgeschaltet. Er erschien im Mantel der Fränkischen Tageszeitung, der Gauzeitung des „Frankenführers“ Julius Streicher. Der ehemalige selbstständige Verleger Eugen Leidel wurde zwar als „verantwortlich für den Lokalteil“ geführt, durfte aber nur noch zensierte Texte drucken.

Täter, Opfer und Mitläufer

1944 wurde die Zeitung nach der Ausrufung des „totalen Kriegs“ dann komplett eingestellt. Verleger und Redakteure, die sich dem Diktat nicht unterwarfen, wurden eingesperrt. Denn wenn es keine freie Presse mehr gibt, können die Funktionen eines Landes bequem mit willfährigen Leuten besetzt werden. Politische Entscheidungen werden nicht mehr öffentlich hinterfragt. Eine weitere Parallele zur Politik in der Türkei und anderen Ländern mit totalitären Tendenzen. Schon allein vor diesem Hintergrund ist der jetzt aufgetauchte Archivband ein unersetzliches Stück Zeitgeschichte.

Dem damaligen Bürgermeister Güntner nutzte die Archiv-Säuberung indes wenig. In der Nacht zum 24. April 1945 zogen die Amerikaner in der Stadt ein. Güntner war vorher geflüchtet. Er versteckte sich mit anderen Nazi-Größen des Landkreises in einer Jagdhütte am Uhlberg. Am 2. Mai 1945 wurde er dort nach Hinweisen einer Treuchtlinger Bürgerin gemeinsam mit dem NSDAP-Kreisleiter Gerstner aus Weißenburg, dem Gunzenhausener Bürgermeister Appler und weiteren Nazi-Aktivisten verhaftet. Güntner saß später fünf Jahre lang bis zum 25. Juli 1950 in Haft. Versuche, sich als Mitläufer zu inszenieren, scheiterten.

Ironie des Schicksals: Angehörige des ehemaligen Nazi-Bürgermeisters wollten den Archivband geschichtsvergessen entsorgen. Der Vater des aktuellen Bürgermeisters rettete ihn mit Blick auf die Treuchtlinger Geschichte. Werner Baum senior, Jahrgang 1934, war übrigens in der Nazizeit nicht in Treuchtlingen. Er kam als Heimatvertriebener erst nach dem Krieg aus seinem Geburtsort Trachenberg nahe dem schlesischen Breslau in die Altmühlstadt, die heute seine zweite Heimat ist. Für sie setzt er sich vielfältig ein – auch mit der Bewahrung der Geschichte.

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