Das Dorf voller Wunder

17.12.2020, 10:15 Uhr
Der bekannteste Vestenbergsgreuther: Helmut Hack vor seinem Haus - im Hintergrund der Firmenkomplex der Martin Bauer Group. 

© e-arc-tmp-20201214_104036-5.jpg, NN Der bekannteste Vestenbergsgreuther: Helmut Hack vor seinem Haus - im Hintergrund der Firmenkomplex der Martin Bauer Group. 

Der Gedenkstein oben am Schwalbenberg hat längst zu verwittern begonnen, die Namen sind kaum noch lesbar. Lebendig ist die Erinnerung. Das Fußballspiel, an das der Stein erinnert, fand nicht auf dem Sportplatz am Schwalbenberg statt, dafür wäre die Anlage viel zu klein gewesen, sondern im Nürnberger Frankenstadion. Dort besiegte der TSV Vestenbergsgreuth im August 1994 den FC Bayern München zum Auftakt des deutschen Pokalwettbewerbs mit 1:0, es war eine der größten Fußball-Sensationen, die es je gab. Das Wunder von Vestenbergsgreuth, am nächsten Tag berichteten Zeitungen in aller Welt darüber. Vestenbergsgreuth, die Lektorate mussten genau hinsehen.


Über Nacht war Vestenbergsgreuth mit seinen 500 Einwohnern das berühmteste kleine Dorf im Land geworden, das ist noch heute so. Adolf Wedel ist ständig unterwegs, in aller Welt, wenn er gefragt wird, wo er herkommt, erlebt er es manchmal. Mittelfranken? Steigerwald? "Erst wenn ich dann Vestenbergsgreuth sage, weckt das eine Vorstellung", sagt Wedel, der selbst – "wie jeder, der rennen konnte", wie er sagt – für den TSV gespielt hat, aber nicht als Fußballer berühmt wurde.


Im Grunde ist Adolf Wedel überhaupt nicht berühmt geworden. Auf die Frage, was er denn beruflich mache, muss er manchmal etwas ausführlicher antworten, viele Leute staunen dann. In aller Kürze könnte man sagen: Er leitet einen Weltunternehmen, führend in Anbau, Veredelung und Vermarktung pflanzlicher Produkte zu Kräuter-, Früchte- und Arzneitees, mit Standorten überall auf dem Globus, das ist auch nur eine Kurzfassung. Nur weiß das kaum jemand, der nicht in oder im Umkreis von Vestenbergsgreuth wohnt.

Noch ein Wunder

"Und das", sagt der 64 Jahre alte Adolf Wedel und lacht, "ist sehr gut so." Die Firma, die Martin Bauer Group, sucht keine Öffentlichkeit, als Lieferant ist sie vornehmlich ihren Kunden bekannt, und obwohl Adolf Wedel ein sehr freundlicher Mann ist und diese besondere Geschichte spannend erzählen kann, wissen die wenigsten, was es mit dem Tee-Dorf auf sich hat.


Das Tee-Dorf, so hieß Vestenbergsgreuth in den vielen Fußball-Berichten vom Aufstieg aus der untersten Liga in die dritthöchste des Landes. Dabei ist das mit dem Tee noch eines – noch "ein Wunder", das Wort verwendet Adolf Wedel auf die Frage, was ihm zuerst einfällt, wenn er zurückblickt auf die Firmenhistorie.

Es begann mit wilden Kräutern


Erst seit 1959 hat das Dorf ein eigenes Gotteshaus, auf dem Friedhof hinter der Christuskirche liegt Martin Bauer begraben, Ehrenbürger, Altbürgermeister, dass er ein bedeutender Unternehmer war, steht nicht auf dem schwarzen Grabstein. Mit Martin Bauer begann alles, er liebte es, wilde Kräuter zu sammeln, später fuhr er sie mit dem Rad zu Apotheken und Drogerien. Tee wurde noch als Medizin gehandelt, im Jahr 1930, Martin Bauer war 28 Jahre alt, gründete er ein Kräuterverarbeitungswerk, aus dem die internationale Unternehmensgruppe wachsen sollte. Helmut Hack stand als Bub auf Bauers Feldern, "wir haben die Pfefferminze gerupft, über dem ganzen Dorf lag der Duft", erzählt er. Denkt er an Martin Bauer, sieht er ihn vor sich, in seiner blauen Schürze, seinen Hof betrieb Bauer noch hochbetagt, "und der Keller", erzählt Adolf Wedel, "war immer voll" – mit eingewecktem Obst und anderen Vorräten.


"Man braucht etwas zum Leben, wenn es schiefgeht", so, sagt Wedel, habe es der Pionier, der sich nie als solchen sah, gehalten. Ging etwas kaputt, hat es Bauer repariert, Nachhaltigkeit nennt man das erst heute. "Unser Opa", sagt Helmut Hack, "war in seinem Fleiß, seiner Bescheidenheit, Naturliebe und Sparsamkeit ein Leitbild für uns."

Als der Fußball zu groß wurde


Helmut Hack, 71 Jahre alt, hier geboren, ist der bekannteste Einwohner des Dorfes, im Grunde der einzige berühmte Vestenbergsgreuther. Er war, natürlich, Fußballer beim TSV, ein sehr guter, so gut, dass ihn der 1.FC Nürnberg in seine A-Jugend holte. Später war er der Präsident des TSV und dann der Architekt noch eines kleinen Wunders.


Als der Fußball zu groß geworden war für das kleine Dorf, trat der TSV der Spielvereinigung Fürth bei, "Kräuter Fürth" hieß der neue Verein in einem schönen Comic des Künstlerduos Katz&Goldt. Aus Teeblatt und Kleeblatt wurde die Spielvereinigung Greuther Fürth, ein höchst solider Profiklub, der gerade auf dem Weg zum zweiten Aufstieg in die Bundesliga sein könnte. Dass Hack, der jahrzehntelang Geschäftsführer der Martin Bauer Group war, in die er mit 14 Jahren als Lehrling eintrat, ein Enkel von Martin Bauer ist, weiß allerdings auch fast niemand; Adolf Wedel ist sein Cousin, dessen Vater war Hans Wedel, Bauers Schwiegersohn.

Lehrlinge dürfen den Chef duzen


Das Wort Familienunternehmen bekommt hier eine ganz eigene Bedeutung, eigentlich umfasst es den gesamten Ort. Wenn neue Lehrlinge ihn respektvoll siezen, stellt sich der Chef gerne mit dem Vornamen vor, "ich bin der Adolf, ich bin per Du mit deinen Eltern, deiner Tante, deiner Oma", sagt Wedel dann. Er lädt Mitarbeiter regelmäßig zu kleinen Tee-Runden ein, Corporate Identity heißt das in der Wirtschaftssprache, Wedel sagt Gemeinschaft, Nähe. Zu romantisch soll das aber nicht klingen, "es ist ja ein knallhartes Geschäft".


Von weltweit 4400 Mitarbeitern der Firma sind 1150 am Firmensitz beschäftigt, "jeder hier im Dorf", sagt der 70 Jahre alte Helmut Lottes, "hat einen Bezug zur Firma". Lottes, ehrenamtlicher Bürgermeister, ehemaliger TSV-Fußballer und Betriebswirt im Ruhestand, hat sein Berufsleben ebenfalls bei Martin Bauer verbracht, "ohne die Firma wären wir ein verschlafenes Dorf", sagt er beim Ortsspaziergang. Der Kindergarten wird erweitert, ein Mehrgenerationenhaus gebaut, neben dem Sportplatz steht ein neues Multifunktionsgebäude, rund um den Ort führt ein hübscher Schaukelweg. Eine attraktive Gemeinde, die Natur vor der Haustür, die Neubürger, sagt Helmut Lottes, wüssten das zu schätzen.

500 Einwohner, trotzdem Parkplatzprobleme


Als Gewerbesteuerzahler hat die Bauer-Holding dem Ort Wohlstand beschert, aber auch jede Menge Lastverkehr, "wo gibt es das schon", fragt Lottes, "dass ein 500-Einwohner-Dorf Parkplatzprobleme hat?" Der Firmenkomplex überragt das Dorf in jeder Hinsicht, schon optisch, "es ist nicht so, dass wir uns nicht auch aneinander reiben", sagt Adolf Wedel, nur sei das leichter, wenn man sich über drei Generationen kennt. Der Firmensitz, sagt Wedel, stand nie in Frage – "obwohl bei einer Standortanalyse für einen Großkonzern niemals Vestenbergsgreuth herauskommen würde".
"Unterschätzt", überlegt Wedel, hätten die ehemaligen Marktführer aus Millionenstädten wie Hamburg Elan und Ideenreichtum aus der Provinz, am Rande des Steigerwalds hatte man früher erkannt, "wie Tee den Mainstream erreicht", so Wedel. Mit dem Aufgussbeutel ("Weil die Menschen ja immer weniger Zeit haben") habe man "einen extremen Auftrieb erlebt", die Firma wuchs stetig, bloß: "Von einer Vision zu reden, wäre Quatsch, es waren auch Glücksmomente dabei."

Fußball erst seit 1974


Adolf Wedel ist der Habitus eines Erfolgsmenschen vollkommen fremd, hier ist er gern der Nachbar. "Mit Menschen zu leben, die sich gegenseitig grüßen, das ist doch wunderschön", sagt er, "es ist Heimat", er muss nicht sagen, dass das wohl auch zur Mentalität des Unternehmens gehört. Worte wie Firmenphilosophie verwendet Wedel gar nicht. Bürgermeister Lottes hatte es beim Rundgang so formuliert: "Der Franke ist mit drei Wörtern aufgewachsen: Arbeit, Arbeit, Arbeit."


So war das auch mit dem Fußball. Es war Hans Wedel, der - selbst kein Fußballer - den Turn- und Sportverein erst 1974 gründete, am Wirtshaustisch des Dorfgasthofes Fürstenhöfer, den heute ein netter Italiener aus Kalabrien führt. "Am nächsten Tag", erzählt sein Sohn Adolf, "war ihm das dann nicht mehr so ganz geheuer, da hat er den Helmut gefragt" – Helmut Hack, der später gute Fußballer nach Vestenbergsgreuth holte. Nicht für Geld, für einen Arbeitsplatz in der Firma, und nur ein einziger, erinnert sich Adolf Wedel, habe geglaubt, er sei als eine Art Halbprofi gekommen, "alle haben hier ganz normal gearbeitet".

Helmut Hack, "ein Bub dieses Dorfes"


Helmut Hack hatte fortan zwei Berufe, bezahlt wurde er nur für einen, der Erfolg der Spielvereinigung Greuther Fürth, deren Präsident er fast ein Vierteljahrhundert lang im Ehrenamt war, führte ihn bis in die Führungsebene der Deutschen Fußball-Liga DFL. "Ich war ein Bub dieses Dorfes", sagt er, "dann war ich der Macher, nicht mehr so nahe an den Menschen – und jetzt bin ich wieder einer von ihnen."


Er erzählt von der Kindheit, von Autofahrten mit seinem Onkel Hans Wedel, nach Bulgarien in Sachen Tee, "die Tante, die nie eine Chefin war", hatte hartgekochte Eier dabei, ein Picknick am Wurzenpass, "mit Salamibroten und den guten Gewürzgurken drauf".
"Das habe ich nie vergessen", sagt Hack, er empfindet es als "einen Segen, ein Glück." "Man passt hier aufeinander auf", überlegt er, er nennt es "die Tugenden aus dem Dorf"; er weiß, dass es Menschen gibt, die das pastoral finden oder kitschig. Helmut Hack lächelt. Seine Frau Karin hat dem Besucher eine wunderbare Kürbissuppe gekocht, das erlebt man eher selten als Journalist.


"Wenn ich Worte wie Dankbarkeit und Zufriedenheit verwende", fragt Helmut Hack, "können Sie das verstehen?" Mit einer Ahnung, wie vermeintliche Wunder beginnen können, fährt man heim.

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