Heinrich von Pierer im Interview

Eine Trümmer-Schelln als Glücksfall

22.3.2021, 15:37 Uhr
Heimlicher Empfang für den Bundeskanzler am Erlanger Burgberg: Auch davon erzählt Heinrich von Pierer.

© Hans Böller Heimlicher Empfang für den Bundeskanzler am Erlanger Burgberg: Auch davon erzählt Heinrich von Pierer.

In Heinrich von Pierers privatem Büro hängt ein Trikot des HC Erlangen – Rückennummer 80, im Januar hat der langjährige Vorstandsvorsitzende der Siemens AG einen runden Geburtstag gefeiert. Jetzt legt er ein kurzweiliges und interessantes Buch vor: "Die Kunst des Machbaren – Lehrreiches und Heiteres aus dem Leben eines Topmanagers". Geschrieben hat er es, betont von Pierer, ohne Ghostwriter. Er kann das – als Student war er Mitarbeiter der "Erlanger Nachrichten", "da habe ich von tollen Leuten viel gelernt". Ein Gespräch über Schnaps, Sport, eine Ohrfeige, drei Kanzler – das Leben.

Herr von Pierer, eigentlich müssten wir, für die Gesprächs-Atmosphäre, jetzt erst einmal eine Flasche Cognac leeren.

Pierer: Sie denken an die Verhandlungen um zwei Kernkraftwerke im Iran? Ja, mit den Persern ging das damals noch so.

In Ihrem Buch erzählen Sie, wie gut eine solche Beziehungsebene für die am Ende erfolgreichen Verhandlungen war.

Pierer: Man kann damit eine über den gegenseitigen Respekt noch hinausgehende Verbundenheit schaffen – und mein persischer Partner hat ja auch gewonnen (lacht). Ihm ging es am nächsten Tag viel besser als mir. Wir stehen übrigens noch heute in Kontakt, gerade erst hat er mir ein Bild von der feierlichen Vertragsunterschrift geschickt, digitalisiert per Whatsapp.

Sie erzählen auch von intensiven Schnapsrunden in China. Trinkfestigkeit gehört ein wenig zu den Qualitäten eines Topmanagers?

Pierer: Der Mao Tai, ein 60-prozentiger Hirseschnaps, ist tückisch. Der Kopf bleibt fit, aber es zieht dir die Beine weg. Die Chinesen haben sich einen Spaß daraus gemacht, selbst nicht mitzutrinken, für sie gab es aus einer anderen Karaffe Wasser – ich habe es mit einem kleinen Trick geschafft, mir auch aus dieser Karaffe einschenken zu lassen. Meine Gastgeber haben es augenzwinkernd zur Kenntnis genommen. Das gehört dazu. Ich bin übrigens kein Alkoholiker geworden.

Um Gottes Willen! Es fällt nur auf, dass es Ihnen in Ihrem Buch oft um Menschen geht, um die persönliche Ebene – obwohl man Wirtschaft mit Zahlen, Daten, Kalkulationen verbindet.

Pierer: n Asien hat das eine große Rolle gespielt, in Arabien auch, nicht in allen Ländern gleichermaßen. Heute geht es bei großen Projekten viel formalisierter zu, über Freundschaften gewinnt man keine Aufträge mehr. Aber das Gefühl, der Partner ist verlässlich, lässt sich ohne persönliche Kontakte nicht herstellen.

Sie waren schon Vorstandsvorsitzender, als Sie die Mitarbeiter dazu ermuntert haben, einander auf dem Flur zu grüßen.

Pierer: Ob das erfolgreich war, weiß ich nicht. Aber der Mensch hat nicht nur Verstand, sondern auch Emotionen. Es geht darum, sich miteinander wohlzufühlen, auch wenn Betriebswirte das nicht gleich in ihren Kennzahlen wiederfinden.

Ellbogen und Intrigen zahlen sich langfristig nie aus, schreiben Sie. Der interessierte Laie könnte Ellbogen für sehr karrierefördernd halten.

Pierer: Das glaube ich nicht, das widerspricht meiner ganzen Berufs- und Lebenserfahrung. Man muss fleißig sein – und zu einer Karriere gehören das Glück und der Zufall, sehr sogar.

Wie jene Ohrfeige, die Sie als Bub bekommen haben, weil Sie einen Schneeball auf einen jungen Studenten geworfen und gut getroffen haben. Ein Glücksfall?

Pierer: Ohne diese Ohrfeige wäre ich vielleicht nie Vorstandsvorsitzender geworden. Der Student war Klaus Barthelt, später wurde er bei Siemens Chef der Kraftwerk Union. Als ich in der Rechtsabteilung das Gefühl hatte, in einer Sackgasse zu stecken, bin ich zu ihm gegangen – und er holte mich in die KWU.

Weil Barthelt ein schlechtes Gewissen wegen der Ohrfeige hatte?

Pierer: Vielleicht – es war ja, wie es fränkisch heißt, eine Trümmer-Schelln (lacht). Ich war ihm auf jeden Fall als zielsicher aufgefallen – und er hat mich daran erinnert. Später hatte ich das Riesenglück, große Prestigeprojekte mitbetreuen zu dürfen. Sie wissen vielleicht, dass ich seit gut 15 Jahren Seminare an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität halte, da werde ich immer wieder gefragt: Wie wird man Vorstandsvorsitzender?

Und: Wie wird man es?

Pierer: Man muss immer seine beste Leistung bringen, im Kleinen gut sein, immer offen für Neues, dann folgen größere Aufgaben. Aber es gibt viele Leute, die fleißig und fähig sind und nicht Chef werden. Wie gesagt, Glück und Zufall spielen eine Riesenrolle, und glücklich werden kann man ja auch ohne einen solchen Posten.

Als Sie es dann wurden: Hat Ihnen das auch einmal ein mulmiges Gefühl bereitet, schlaflose Nächte?

Pierer: Das nicht, aber große Nachdenklichkeit. Ich wusste, dass es eine enorme intellektuelle und physische Herausforderung bedeuten würde. Siemens hatte damals 90 Geschäftsfelder, alles mittelgroße, internationale Unternehmen, auf manchen habe ich völliges Neuland betreten und zum Beispiel bei unserem Technik-Chef private Nachhilfestunden genommen. Auch die Profitabilität war, milde ausgedrückt, unzureichend. Meiner Frau musste ich sagen: Jetzt ändert sich unser Leben. Sie hat mich vorbehaltlos und liebevoll unterstützt. Und ich musste darauf achten, wie ich auftrete – nicht arrogant natürlich, mit einer gewissen Bescheidenheit, aber selbstbewusst und optimistisch.

Dafür gibt es Trainer und Berater – vermutlich haben Sie keinen genommen?

Pierer: Gute Frage. Nein, vielleicht würde ich es heute tun. Ich war drei Jahre im Amt, als der "Spiegel" schrieb: Er sieht schon alt und grau aus – das war nach einem Vortrag, schlechtes Licht im Saal, und ich war nicht richtig rasiert. Ich habe mir am nächsten Tag für 50 D-Mark den kleinsten Rasierapparat gekauft, den ich finden konnte. Den hatte ich dann immer dabei und musste so etwas nicht mehr lesen.

Ihr Leben hat sich dann tatsächlich sehr verändert. Zum Geburtstag Ihrer Frau gab es einmal keine Feier – Gäste kamen schon, nämlich Gerhard Schröder und Edmund Stoiber. Eine fast unglaubliche Geschichte, oder?

Pierer: Sie wäre bis heute geheim geblieben, hätte sie Gerhard Schröder nicht in seinen Memoiren erwähnt. Der Bundeskanzler hatte mich damals um eine solche private Einladung gebeten, nach dem Wahlkampf 2002 war das Verhältnis beider angespannt, und ich musste unseren erwachsenen Kindern erklären, dass Mamas Geburtstag einmal nicht gefeiert wird – sie wollten das gar nicht glauben. Das Treffen blieb wirklich vollkommen geheim, noch nicht einmal die Nachbarn am Erlanger Burgberg haben etwas gemerkt – und meine Frau hat dann gekocht, am Gespräch war sie nicht beteiligt. Die Gäste wussten vom Geburtstag nichts.

Fränkische Küche?

Pierer: Oh, ich weiß es gar nicht mehr, aber meine Frau kocht sehr gut. Schröder hat sich auch für den hervorragenden Rotwein bedankt. Als beide, Stoiber und er, etwas getrunken hatten, haben sie sich über ihre schwere Jugend ausgetauscht – mein Gesprächsanteil war sehr gering.

Als bekennender CSU-Mann verstehen Sie sich mit Schröder sehr gut. Die Politik trennt nicht?

Pierer: Überhaupt nicht. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte mir 1993 den Vorsitz des Asien-Pazifik-Ausschusses der deutschen Wirtschaft angetragen. Ich war auf Auslandsreisen abends im inneren Zirkel der SPD dabei, da gab es keine Berührungsängste.

Kohl, Schröder, Angela Merkel: Sie haben drei Staatschefs beraten. Gibt es einen Lieblings-Kanzler? Schröder?

Pierer: Nein. Ich kam mit allen gut aus, sie sind sehr unterschiedlich. Kohl wusste immer genau, was er wollte, Schröder ist der Kumpeltyp und sehr wirtschaftsaffin, was vor allem auch mitreisende Mittelständler schätzten. Merkel hatte klare Ziele und war intellektuell auf der Höhe. Tennis spielen konnte ich aber nur mit Gerhard Schröder.

Er spielt ordentlich?
Pierer: Als ehemaliger Fußballer war er läuferisch auf der Höhe, temperamentvoll, aber ein Spätberufener, da ist die Technik nicht perfekt – so ähnlich war es früher, mit Max Morlock beim Club zu spielen. Max war auch ein spätberufenes Tennis-Talent.

Sie waren immer mit Freude beim Sport, unter Menschen, auch auf der Erlanger Bergkirchweih, Sie haben gern mit Mitarbeitern gesprochen. Die englische "Financial Times" hat Sie einmal einen "pragmatischen Kapitalisten und Sozialromantiker" genannt, weil Sie sich beim Umbau des Konzerns für den global gewordenen Markt immer auch für die Mitarbeiter eingesetzt haben, nicht nur für den Börsenkurs und die Aktionäre. Romantik – wie passte das zu einem der großen Wirtschaftsführer der Welt?

Pierer: Die Zeitung hatte mich zu einem Lunch nach London eingeladen. Am Vorabend waren meine Frau und ich zum Essen, Spaghetti Bolognese, die liebe ich – aber für zwölf Pfund (nach heutigem Wert etwa 20 Euro, d. Red.). Auf dem Weg zum Hotel, in dem die Nacht 1300 Pfund kostete, sind wir an unzähligen Obdachlosen vorbeigekommen. Ich habe das nach dem mit kritischen Fragen gespickten Lunch erzählt und gefragt: Wie denken Sie über den sozialen Zusammenhalt in Ihrem Land? Die Verblüffung sehe ich noch heute. So kam wohl die Überschrift zustande.

Sie können damit leben?

Pierer: In den USA wäre das wohl schwieriger. Ich habe im Buch ja auch über Jack Welch geschrieben ...

... die Neutronenbombe, Chef von General Electric...

Pierer: Neutron Jack, so hieß er, nachdem er durch die Fabriken gegangen war, standen die Wände noch, aber die Menschen waren weg. Er war mit rasend schnellen Gewinnen der Star an der Börse, hat aber Strukturen hinterlassen, unter denen GE beinahe zusammenbrach. Wir mussten auch die Zahl der Mitarbeiter reduzieren, haben aber nicht nur auf die Gewinnmaximierung für die Aktionäre geschaut, sondern nachhaltig gewirtschaftet. In Deutschland haben wir glücklicherweise eine soziale Marktwirtschaft. Ja, ich kann mit dieser Zeitungsüberschrift gut leben.

ZUR PERSON: Heinrich von Pierer kam 1941 in Erlangen zur Welt, studierte dort Rechtswissenschaften und Betriebswirtschaft und trat als promovierter Jurist in die Siemens AG ein. Von 1992 bis 2004 war er Vorstandsvorsitzender und führte den Weltkonzern erfolgreich in die Neuzeit. Der Familienvater verpasste in all den Jahrzehnten kein Punktspiel seines Tennisvereins, für den er heute noch aktiv ist. Sein Buch "Die Kunst des Machbaren - Lehrreiches und Heiteres aus dem Leben eines Topmanagers" ist im Münchner Redline-Verlag erschienen und kostet 14,99 Euro.

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