Die Steine in Baiersdorf zum Sprechen gebracht

3.1.2020, 15:00 Uhr
Die Steine in Baiersdorf zum Sprechen gebracht

© Dieter Köchel

Die Inschriften auf den 1277 Grabsteinen sind, soweit möglich, entziffert.

In der Folge könnte, so Susanne Talabardon, Lehrstuhlinhaberin für Judaistik an der Friedrich-Otto-Universität in Bamberg, Detailforschung zu einzelnen Familien betrieben werden. Sie nahm bei der Vorstellung der Dokumentation Jom Tov Lederer (1812 bis 1875) als Beispiel. Als Franken zum Königreich Bayern kam (1806) wurden die Juden gezwungen, Familiennamen anzunehmen. Jom Tov war mit Reisla (Rösla) Lederer aus Forchheim verheiratet, die jedoch im Kindbett starb, wie ihrer Grabinschrift zu entnehmen ist. Später ehelichte Jom Tov eine Helene.

Die Eulogie — Lobeshymnen auf den Verstorbenen auf den Grabsteinen — rühmt Jom Tov als herausragenden Diener Gottes (War er Rabbiner?). Die besondere Erwähnung seiner wohlklingenden Stimme legt auch nahe, er könnte Vorbeter gewesen sein.

Wie das Fränkische zum Problem für die Wissenschaft geraten kann, erklärte die Professorin so: Aus Jom Tov wurde ein Jondoff und schließlich ein Jondorff gemacht, der Name also bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Dazu kommt, dass laut Talabardon jeder Friedhof seine eigene Inschriftensprache habe.

Sie erzählte noch, dass Babette Lederer als Tochter aus der Ehe mit Rösla hervorging. Die komplette Familiengeschichte zu erforschen, könne eine Dokumentation des Friedhofs nicht leisten, doch gebe die Dokumentation Hinweise, Anstöße und Anregungen zur Erhellung einzelner Biografien.

Rebekka Denz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl der Professorin, hatte eingangs erläutert, warum das Thema "Jüdische Friedhöfe — ein vielfältiges Forschungsfeld am Beispiel Baiersdorf" lautet. Rund 2000 jüdische Friedhöfe sind deutschlandweit bekannt, davon 200 in Bayern, 110 in Franken und 30 in Mittelfranken. Die Dokumentation umfasst drei große Arbeitsschritte: als erstes das fotografische Erfassen der Grabsteine, als zweites die kunst- und kulturgeschichtliche Erforschung (etwa der Symbolik) sowie die Einordnung, und schließlich die Entschlüsselung der Inschriften. Mit diesen Schritten sei man in Baiersdorf fast fertig. Bald würden die Forschungsergebnisse öffentlich (online) zugänglich gemacht — dank der Stadt Baiersdorf.

Sehr aufwendig sei die Arbeit, unterstrich Rebekka Denz. Dafür ein Bewusstsein zu schaffen sei eine große Herausforderung. Ebenso die kulturgeschichtliche Bedeutung jüdischer Friedhöfe klar zu machen, sowie die Dringlichkeit der Erforschung; denn die Grabsteine verwittern Jahr für Jahr mehr. Da benötige man interdisziplinäre Teams sowie Netzwerkarbeit, um Wissen und Ressourcen zu bündeln.

Vor der Vorstellung der theoretischen Arbeit durften Studierende und einige Baiersdorfer Bürgerinnen und Bürger dem jüdischen Leben in Baiersdorf praktisch nachspüren, geführt vom Historiker und Stadtführer Horst Gemeinhardt. "Ohne ihn gäbe es den Baiersdorfer Judenfriedhof so nicht und auch nicht die Erforschung des Friedhofs", rühmte Susanne Talabardon.

Gemeinhardt erläuterte zunächst die Geschichte und die Besonderheit jüdischen Lebens in Baiersdorf. Wiewohl es eine Judengasse gibt, an der auch das jüdische Gemeindezentrum mit Synagoge, Tahara-Haus, Rabbinerhaus und Mikwe angrenzend an den jüdischen Friedhof lagen, hätten die Juden in Baiersdorf nicht im Ghetto gelebt. Er belegte dies mit einem Stadtplan, auf dem er Häuser markiert hatte, die im Lauf der Geschichte von jüdischen Bürgern bewohnt waren — über die ganze Altstadt verteilt.

Der jüdische Friedhof ist — anders als in den jüdischen Landgemeinden ringsherum — innerhalb der Stadtmauern von Baiersdorf situiert. Ungewöhnlich ist auch die Ausrichtung der Gräber nach Westen zum Ostfenster der Synagoge hin, das über dem Thoraschrein platziert war. An einigen Beispielen verdeutlichte Gemeinhardt beim Rundgang auf dem Friedhof den Reichtum der religiösen Symbolik: Da finden sich Levitenkannen, Mohelmesser, Lebensbaum, Stundenglas, stilisierte Blumen, Kohanimhände und Kronen, aber auch der Davidstern (ab 1850). Auch Namens- und Stammessymbolik weisen etliche Grabsteine auf wie etwa Hirsch, Bär, Löwe oder Gans.

Allein, dass es den jüdischen Friedhof in Baiersdorf heute noch gibt, grenzt an ein Wunder. Die Nazis zerstörten nach dem Pogrom von 1938 etliche Grabstätten; sie planten eine Maulbeerbaumplantage auf dem Friedhofsareal. Auch nach dem Krieg war noch die Bebauung mit Wohnhäusern im Gespräch. Doch die amerikanische Besatzung forderte die Wiederaufrichtung der Grabstätten. So geschah’s.

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