von Stengel: „Der Muskel gehört raus aus der Schmuddelecke“

11.11.2012, 11:00 Uhr
von Stengel: „Der Muskel gehört raus aus der Schmuddelecke“

© colourbox.com

Herr von Stengel, viele Menschen glauben, dass eingeölte Bodybuilder zwar toll aussehen, aber rein gar nichts in der Birne haben. Sie versuchen jetzt, Werbung ausgerechnet für Krafttraining zu machen.

Simon von Stengel: Ja, den Glauben gibt es. Aber es gibt neuartige Studien, die beweisen, dass es anders ist. Der Muskel ist ein Vitalitätsorgan, steht für Gesundheit und mentale Leistungsfähigkeit. Der Muskel gehört raus aus dieser Schmuddelecke.

Als gesund galt es bislang, Gesundheitssport wie Walken, Joggen, Radfahren oder Schwimmen zu betreiben. Jetzt soll Krafttraining besser sein?

Simon von Stengel: Besser kann man nicht sagen. Aber man hat ein ganz anderes Bild vom Muskel bekommen. Er ist nicht nur ein Organ, das einzig Kraft entfaltet, sondern man weiß jetzt, dass der Muskel das größte Stoffwechselorgan des Körpers ist. Ferner produziert er auch Botenstoffe, die vielfältigen Einfluss haben.

Wenn ich jogge, walke, schwimme oder Rad fahre, trainiere ich doch meine Muskulatur.

Simon von Stengel: Das schon, aber wir sprechen von Kraftsport, wenn die aufzuwendende Muskelkraft bei mehr als 30 Prozent der Maximalkraft liegt. Alles darunter ist Ausdauertraining, da liegt der Trainingseffekt primär im Herz-Kreislauf-Bereich und im Muskelstoffwechsel.

Kommen nicht gerade untrainierte Menschen beim Gesundheitssport locker über diese 30 Prozent?

Simon von Stengel: Ja, völlig untrainierte Menschen können damit durchaus ein Muskelwachstum erzielen. Aber für trainierte Menschen reicht das nicht aus. Sie brauchen mehr als 30 Prozent ihrer Maximalkraft, um den Muskel maßgeblich zu beanspruchen. Nur dann wächst der Muskel und der Muskelstoffwechsel wird verbessert. Im Gesundheitssport erreicht man im Normalfall nur 50 bis 80 Prozent der Maximalkraft.

Trainierte Muskeln sollen dabei helfen, Diabetes, Arteriosklerose, Depressionen und Alzheimer zu heilen.

Simon von Stengel: Der Muskel ist, wie gesagt, das größte Stoffwechselorgan des Körpers. Hauptrisikofaktor einiger Krankheiten ist viszerales Fett, also das Bauchfett. Das wird wiederum von der Muskulatur verbrannt. Wer seine Muskeln aktiviert und eine große Muskelmasse hat, der kann Fette besser verstoffwechseln. Das ist das eine. Das andere sind Botenstoffe, die der Muskel ausschüttet – die sogenannten Myokine, die sind erst seit wenigen Jahren überhaupt bekannt.

Und die können Medikamente ersetzen?

Simon von Stengel: Zum Teil geht man davon aus, ja. Es sind mehrere Hundert Myokine identifiziert, in ihrer Wirkung sind bislang nur gut ein Dutzend definiert. Die Botenstoffe reduzieren Entzündungsprozesse im Körper.

Also ist der Muskel eine Art Apotheke im Körper?

Simon von Stengel: Das kann man so sagen. Gerade als Gegenpol zum Fettgewebe, das schädliche Stoffe aussendet, ist das so. Es geht hier um ein Gleichgewicht zwischen Muskelmasse und Fettgewebe. Muskelgewebe ist vital mit positiven Botenstoffen, also die Apotheke des Körpers, was das Übel, das mit Fettgewebe zusammenhängt, lindert oder heilt.

Dabei soll ein kleiner Wohlstandsbauch nicht ungesund sein.

Simon von Stengel: Der typische Männerbauch ist in jedem Fall ungesund. Das ist dieses viszerale Fett, das im Zusammenhang steht mit erhöhten Blutfetten, Bluthochdruck, Gefäßverkalkung. Bauchfett schüttet die eben erwähnten, schlechten Botenstoffe aus.

Viele Menschen schlucken Tabletten, können die sich Hoffnung machen, durch Krafttraining von den Pillen loszukommen?

Simon von Stengel: Jein, so pauschal lässt sich das nicht beantworten. Bei Bluthochdruck zum Beispiel ist Ausdauertraining und Entspannung das Richtige. Bei Diabetes hat man früher nur Ausdauertraining gemacht, um den Stoffwechsel, der ja erkrankt ist, zu heilen. Da gibt es heute neue Erkenntnisse: In den Studien erwies sich Krafttraining als mindestens gleichwertig. Heute sagt man, dass eine Kombination von Kraft- und Ausdauertraining ideal ist gegen Diabetes.

Wie ist das mit Alzheimer?

Simon von Stengel: Hier sind einige Studien gemacht worden, meines Wissens aber bislang noch nicht gezielt mit Krafttraining. Alzheimer lässt sich aber durch allgemeine Bewegungsprogramme um rund 30 Prozent senken. Das ist eindeutig belegt.

Muss man, um diese von Ihnen gelobte Heilkraft auszuschöpfen, trainieren wie ein Bodybuilder?

Simon von Stengel: Nein. Wenn man zwei Mal die Woche trainiert — hier reichen 30 bis 45 Minuten —, kann man schon gute Effekte erzielen.

30 Minuten reichen aus?

Simon von Stengel: Man sollte immer erschöpfend arbeiten, der Muskel muss ermüdet werden, um den Trainingseffekt zu maximieren. Dann reichen auch 30 Minuten.

Wenn ich die Hantel nicht mehr hochbringe, kann ich duschen gehen.

Simon von Stengel: Genau. Jemand, der gesund und belastbar ist, sollte bis zur letzten Wiederholung, die man sauber ausführen kann, trainieren. Wenn man unter Risikofaktoren oder orthopädischen Beschwerden leidet, ist das aber anders. Dann sollte man auf jeden Fall den Arzt vorher befragen.

Jeden Tag nach dem Aufstehen Liegestütz und Sit-Ups wären genug?

Simon von Stengel: Man braucht nicht unbedingt ein Studio. Man kann zu Hause sogar in kurzer Zeit relativ viel erreichen. In der Anfangsphase reicht sogar ein Ein-Satz-Training aus, das ist erwiesen. Erst wenn der Trainingszustand gut ist, sollte man steigern.

Wenn ich regelmäßig trainiere, kann ich dafür essen, was ich will?

Simon von Stengel: Nein. (lacht) Das ist schwer zu beantworten.

Probieren Sie es trotzdem.

Simon von Stengel: Generell ist es so, dass jeder, der abnehmen will, Ausdauersport machen sollte. Denn hier hat man einen größeren Kalorienverbrauch als beim Krafttraining, es wird auch mehr Fett verbrannt.

Also ist beides zusammen ideal?

Simon von Stengel: Hauptproblem ist der Jojo-Effekt, weil die Leute meist weniger essen als vorher. Wenn man die Kalorienzufuhr aber drosselt, verliert der Körper nicht nur Fette, sondern zehrt an den eigenen Strukturen. Er verbrennt also auch Eiweiße im Rahmen der Zuckerproduktion. Was man auf der Waage dann sieht, ist nur zu einem kleinen Teil Fett. Maßgeblich sind das Muskeln und Wasser. Das ist das Problem nach der Diät: Die Muskelmasse ist verringert, der Stoffwechsel reduziert. Pro Kilo Muskelmasse verbrenne ich am Tag im Ruhezustand aber 50 Kalorien mehr.

Aber wenn ich weniger esse, werde ich schlanker...

Simon von Stengel: Der Körper hat aber durch das reduzierte Essen den Stoffwechsel gedrosselt. Wenn man wieder normal isst, nimmt man sofort übermäßig zu.

Angeblich stimuliert Krafttraining auch den Geist — entgegen dem Klischee der hirnlosen Bodybuilder. Werde ich schlauer?

Simon von Stengel: Generell weiß man durch Studien, dass die Muskulatur Substanzen produziert, die Einfluss auf das Gehirn haben. Und zwar auf Zellneubildung und die Verknüpfung der Zellen. Das wurde bei Tierversuchen nachgewiesen. Außerdem steigert man durch Sport die Durchblutung im Hirn und schüttet Botenstoffe aus, die die Konzentrationsfähigkeit erhöhen. Dass die, die große Muskeln haben, nichts im Kopf haben, ist ein Vorurteil. Wichtiger ist, dass Muskelmasse für die Gesundheit wertvoll ist. Wertvoller sogar, als wir bisher annahmen.

Interview: CHRISTOPH BENESCH

Dr. Simon von Stengel und Professor Wolfgang Kemmler suchen für eine Kraftstudie gesunde Männer zwischen 30 und 50 Jahren, die wenig oder gar keinen Sport treiben. Mit ihnen wollen sie fünf Monate lang zwei Mal die Woche die Muskeln wieder auf Vordermann bringen. Start der Eingangsmessungen ist Ende November, das Training beginnt im Januar 2013. Bei Interesse kann man sich dienstags von 10 bis 12 Uhr unter Telefon (09131) 8522824 oder per E-Mail an andreas.wittke@imp. uni-erlangen.de anmelden.

Keine Kommentare