17. Dezember 1970: Gaudi oder ernste Sache?

17.12.2020, 07:00 Uhr
17. Dezember 1970: Gaudi oder ernste Sache?

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Natürlich sind auch innerhalb der Redaktion unserer Zeitung die Meinungen geteilt. Zwei entgegengesetzte Ansichten zum „Disneyland neben dem Königstor“, wie das Vorhaben gerne genannt wird, seien hier von zwei Mitgliedern der Redaktion zur Diskussion gestellt:

FRITZ ASCHKA: Eigentlich soll man ja keinem dreinreden und schon gar nicht in Geschäftliches. Aber etwas verwunderlich ist es schon, daß das Projekt Waffenhof – abgesehen von den unmittelbar dortselbst betroffenen Ladenpächtern – offenbar eitel Zustimmung findet. Dabei paßt dieses Mini-Mittelalter nach Disney-Manier weder zum Charakter der Stadt Nürnberg noch zu dem ihres Geniusses A. D.

Im Waffenhof am Königstor soll, soviel bisher bekannt ist, bis April 1971 durch Einbauten künstlich eine mittelalterliche Enge erzeugt werden. Und dann soll es dort sehr lustig zugehen, mit Fachwerk und Wein und Bier und Handel und Handwerk und Tänzern und Geldwechslern und Sängern. (Wenn letztere als Troubadoure bezeichnet wurden, so muß es sich um ein Mißverständnis handeln. Solche nämlich sangen nur in der Provence und dorten nicht auf mittelalterlichen Marktplätzen, sondern an ritterlichen Höfen.)

Mißverständnis, so bedünkt mich, obwaltet aber nicht nur im speziellen Falle, sondern überhaupt. Wenn es in Nürnberg vor vielen Jahrhunderten Erscheinungen eines Mittelalters der fröhlichen Enge gab, so sind diese für die Stadt nicht repräsentativ. Die Nürnberger Altstadt ist nur für den ein steingewordenes Mittelalter, der es um gewisser romantischer Prämissen willen nicht anders haben will.

Ludwig Tieck und Georg Wackenroder, Studenten aus Berlin, kamen anno 1793 nach Nürnberg und fanden „die Stadt in ihrer ganzen Größe und Pracht“. Was sie aber tatsächlich entdeckten und was sich dann in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ niederschlug, das war die Romantik. Was ihnen verborgen blieb und was sich offenbar bis heute nicht herumgesprochen hat, war dieses: daß Nürnberg innerhalb seiner Mauern eine Stadt im Aufbruch zur Neuzeit ist.

Dabei besteht der lebendige Reiz des Stadtkerns darin, daß er nicht irgendwann – sagen wir um 1250 – eingefroren wurde, sondern sich bis ins 16. Jahrhundert hinein kräftig entwickelt hat. Unter den berühmten Bauwerken ist kaum eines, das nicht seine Entwicklung in Jahrhunderten spüren ließe, seien es die Kirchen St. Lorenz und St. Sebald, sei es der Gesamtkomplex der Burg, sei es vor allem die Stadtbefestigung, die zwar noch den mittelalterlichen Wehrgang aufweist, aber auch die Bastionen nördlich der Burg, die der Malteser Fazuni Anno 1545 vollendete und die noch lange danach als zukunftsweisendes Festungsbauwerk angesehen wurden.

Was aber für die Stadt gilt, das gilt für Albrecht Dürer nicht minder. Oder: möchte jemand füglich bezweifeln, daß sich jener Maler und Graphiker nicht mehr im reinen Mittelalter befand, sondern im Aufbruch zur Neuzeit? Daß er sich zwar einerseits durchaus auf die mittelalterliche Symbolwelt verstand (wie in seinem Bild „Maria mit den vielen Tieren“), daß er aber eben nicht in dieser Welt stecken blieb, sondern darüber hinauswuchs und für seinen Teil dazu beitrug, die Neuzeit zu bereiten?

Nun, wie auch immer. Im Grunde ist ja gegen Fachwerkattrappen und Troubadoure nicht viel einzuwenden, es gibt Schlimmeres. Aber beides in einen Zusammenhang mit Nürnberg und mit Dürer zu stellen, das heißt, den Gang der Geschichte nicht mit offenen Augen zu betrachten, sondern durch Butzenscheiben, durch verstaubte.

HARALD LAMPRECHT: Ich finde es auch ungeheuerlich, daß die Veranstalter der Gaudi im Waffenhof die Kameraden Tieck und Wackenroder, beziehungsweise deren romantische Ergüsse nicht kennen. Die Kenntnis der „Herzensergießungen eine kunstliebenden Klosterbruders“ ist natürlich unerläßlich, wenn man in Nürnberg, wie es in unserer Zeitung hieß, einen Anziehungspunkt für den Massentourismus schaffen will.

Darum, und um nichts anderes geht es. Ich weiß nicht, ob zur Christkindelzeit auf dem Hauptmarkt eine „künstlich erzeugte mittelalterliche Enge“ herrscht. Sicher ist aber, daß wegen dieses Marktes in 14 Tagen 17 Sonderzüge nach Nürnberg kommen, von den vielen Omnibussen ganz zu schweigen, die das Überqueren der Insel Schütt zu einem Beinahe-Abenteuer machen.

Machen wir uns doch nichts vor: Dürer-Jahr hin oder her, großer oder nicht ganz so großer Meister, nix eingefrorenes Steingewordenes oder doch, Fazuni, Höfe, Tore, Jahrhunderte, Krieg – dieser Stadt geht es doch 1971 letztendlich darum, in großem internationalem Rahmen ihr Bild zurechtzurücken. Das Remidemi im Waffenhof ist eine Hilfe, Gäste in die Stadt zu bringen. Ob diese Art von Hilfe einschlägt, ist eine andere Frage. Sie können nicht einmal die Veranstalter beantworten.

Sollte aber das wissenschaftlich sicherlich unerhebliche Gaudium neben dem Königstor ein Erfolg werden, ein Erfolg freilich, der sich nur in Zahlen ausdrücken läßt, dann ist doch zu hoffen, daß von den Tausenden von Besuchern ein paar Prozent sich die Frage stellen, was ist denn dieses Nürnberg eigentlich? Und sie finden den Weg ins Germanische, nicht nur zu, sondern auch in die Kirchen, und in der Kaiserstallung gibt ihnen Noricama noch einmal eins aufs Haupt, und wer dann in Nürnberg immer noch nur die Stadt der Reichsparteitage sieht, ist selber schuld. Nun, wie auch immer. Ich habe gegen Fachwerkattrappen und Troubadoure nichts, aber auch gar nichts einzuwenden.

Wenn es gut gemacht ist, warum nicht? Es gibt sehr gescheite Professoren, die sich bei Donald Duck entspannen und die von Asterix begeistert sind. Deshalb betrachten sie durchaus den Gang der Geschichte mit offenen Augen, etwa nach dem Motto: Ein Schuft, wer durch den Spitzweg im Herzen verstaubte Butzenscheiben vor den Verstand kriegt.

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