23. Dezember 1970: Reserve-Manöver im Hauptbahnhof

23.12.2020, 07:00 Uhr
23. Dezember 1970: Reserve-Manöver im Hauptbahnhof

© Ulrich

"Is do heit Fußball?", fragt mich eine ältere Frau. "Nein", sage ich, "die sind von der Bundeswehr entlassen worden." Die gute Oma ist beruhigt.

Mich aber beunruhigen die vielen martialisch dreinblickenden Feldjäger, gestiefelt, umgeschnallt, mit überlangen weißen Gummiknüppeln, am weißen Koppel.

Zwischen dem Kino im Hauptbahnhof und der Schalterhalle bin ich vier Streifen, insgesamt neun Mann, begegnet. Ich blicke den Feldjägern unerschrocken ins Gesicht. Aus ihren Augen lese ich die ganze Dienstauffassungs-Einstellung zwischen "völlig überflüssig" und "äußerst wichtig" ab.

Die Feldjäger spähen und spähen, und wenn sie irgendwo "Reserve hat Ruh" oder bahnbrechendes Gehupe vernehmen, dann horchen sie auf, dann eilen sie auf wogende Pfauenfedern zu. Ganz nach dem Grundsatz: "Ziel erkannt." Die Erkannten hinwiederum bleiben plaudernd stehen und sagen "Grüß Gott". Die Feldjäger marschieren vorbei. Nichts ist gewesen.

Passanten belustigen sich an der offenbar letzten Übung zwischen Reserve und Aktiven. "Wir sind noch bis 31. Dezember offiziell beim ‚Bund‛, deshalb passen die so auf uns auf, wenn wir was tun, nehmen sie uns mit", klärt mich ein Ausgedienter auf. Das Letzte Scharmützel zwischen Befehl und Gehorsam, zwischen Respekt und Götz von Berlichingen, zwischen Kaserne und Freiheit spielt sich im Hauptbahnhof ab.

Das Manöver endet wohl wie jedes Manöver: Zweck erfüllt. Die einen haben gelernt, wie sie sich verhalten müssen, die anderen, wie man eventuellem Verhalten entgegentreten kann. Gestern haben auch die Strafanstalten in Bayern alle Gefangenen entlassen, deren "Dienstzeit" zwischen dem 18. Dezember und dem 4. Januar endet. Nicht auszudenken, wenn die Justiz den Übergang ihrer Schutzbefohlenen ins Zivilleben auch mit Streifen überwacht hätte.

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