27. Dezember 1970: War die alte Zeit so schön?

27.12.2020, 07:00 Uhr
27. Dezember 1970: War die alte Zeit so schön?

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Sicher, vor hundert Jahren war alles viel billiger. Zum Beispiel – da hat die Maß Bier keine 20 Pfennig gekostet!

Das stimmt sogar. Nach der Viktualienpreis-Statistik des königlich bayerischen Statistischen Bureaus kostete 1872 das Pfund Schwarzbrot (umgerechnet) 15 Pfennig, Butter 1,05 Mark, Schweinefleisch 63 Pfennig. Ein Huhn war für 1,26 Mark zu haben und für die schon genannte Maß Bier verlangte der Wirt 19 Pfennig. Aber welches Einkommen stand dem Urgroßvater für den Erwerb dieser Dinge zur Verfügung?

Bleiben wir beim Jahr 1872. Nürnberg hatte damals etwa 84 000 Einwohner. Unter den Berufen stellten, damals wie heute, die Fabrikarbeiter mit über 12 000 die größte Gruppe; ihnen folgten die Dienstboten (5325 weibliche und 907 männliche), die Handwerker (5364) und schließlich die Kleinhändler (1557). Alle anderen Berufsgruppen blieben unter 1000 Gliedern.

Die höchsten Wochenlöhne erzielten – auch das ist also nicht neu – die Maurer mit 16,08 Mark. Ein Bauhilfsarbeiter verdiente 11,04 Mark, die Buchbinder und die Bleistiftarbeiter kamen wöchentlich auf 10,80 Mark. Die Schmiede, Gießer und Lackierer bei Cramer-Klett (der heutigen MAN) hatten durchschnittlich 12,60 Mark in der Lohntüte. Und das alles, nur zur Ergänzung, bei 60stündiger Arbeitszeit, ohne freien Samstag, ohne Lohnfortzahlung bei Krankheit und ohne Urlaub.

Hungern oder Frauenarbeit

Nehmen wir ein durchschnittliches Einkommen von 12 Mark pro Woche, dann arbeitete der Urgroßvater also für etwa 12 Pfund Butter oder 20 Pfund Fleisch oder eben für 60 Maß Bier. In einer Ausgabenübersicht für eine sechsköpfige Arbeiterfamilie errechnete der „Nürnberg-Fürther-Sozialdemokrat“ in seiner Nummer vom 15. Dezember 1874 ein jährliches Ausgabensoll von 1.813 Mark, dem aber nur Einnahmen von 936 Mark gegenüberstanden.

Der Fehlbetrag in Höhe von 877 Mark müsse, so schrieb das Blatt, durch Hungern, Überstunden und Frauenarbeit gedeckt werden. Nun, wenn auch jede Statistik mit Mißtrauen betrachtet werden soll, so mag doch klar geworden sein, daß der Durchschnittsurgroßvater in finanzieller Hinsicht keineswegs auf Rosen gebettet war.

Ja aber – und in anderer Hinsicht? Natürlich ist die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts ein sehr komplexes Gebiet, und an dieser Stelle können nur einige streiflichtartige Punkte herausgegriffen werden. Ein Thema muß aber noch berührt werden: Früher, anno dazumals, „da gab es noch“ die Sittsamkeit. Wirklich?

Gerade am Beispiel der Gründerzeit in den Industriestädten zeigt es sich, wie sehr Sitte und Moral eine Funktion der sozialen Verhältnisse sind. 1863 gab es in Nürnberg 2.751 Geburten, davon waren 30,8 Prozent unehelich. Der Grund dafür, daß fast jedes 3. Kind außerehelich geboren wurde, lag nicht so sehr darin, daß die Eltern eine Abneigung gegen den braven Ehestand gehabt hätten. Im Gegenteil, sie hätten ja recht gern geheiratet, wenn man sie nur gelassen hätte. Bis 1868 war die „Ansässigmachung“ die unabdingbare Voraussetzung für eine Eheschließung, und dieser Akt mußte vom Magistrat genehmigt werden.

Die entsprechenden „Ansässigmachungsgesuche“ liegen im Stadtarchiv; Hugo Eckert hat für seine ausgezeichnete Untersuchung „Liberal- oder Sozialdemokratie, Frühgeschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung“ (Stuttgart 1968) eine Auszählung dieser Quellen vorgenommen. Danach ergab sich, daß in den 1860er Jahren mindestens jedes vierte dieser Gesuche abgelehnt wurde: Eckert schließt daraus, daß damals jeder zweite Ehewillige auf die Heirat verzichten mußte. (Zum Vergleich: In der Pfalz gab es dieses Gesetz nicht, deshalb wurde dort auch nur jedes zehnte Kind unehelich geboren.)

Jeder zweite war also zu arm zum Heiraten. Er war nicht heimatberechigt, und daraus folgerte, daß er im Notfall auch keinen Unterstützungsanspruch an die Gemeinde geltend machen konnte. (Die Bezeichnung für solche Einwohner war „Inleute“ oder „Mietleute“.) Aber selbst wer mit der Ansässigmachung das „Heimatrecht“ erwerben konnte, war damit noch kein erstklassiger Nürnberger.

Das wurde man erst mit der Verleihung des „Bürgerrechts“, die jedoch mit erheblichen Kosten verbunden war. Nur das Bürgerrecht berechtigte aber zur Teilnahme an der Magistratswahl. So kam es, daß etwa zur Reichstagswahl 1881 20.870 Nürnberger (natürlich nur Männer) wahlberechtigt waren gegenüber nur 5.171 Männern, die sich an der 1884 stattgefundenen Gemeindewahl beteiligen durften.

Habenichtse dominierten

Gute alte Zeit? Soll man sie etwa in der ferneren Vergangenheit suchen? Auch davor möchten wir warnen. Stellvertretend für andere Quellen nur eine knappe Auszählung aus Augsburger Stadtsteuerlisten des 15. Jahrhunderts: demnach steuerten nur zwei Prozent der Bevölkerung über 100 Gulden (das waren die Reichen), acht Prozent zahlten zwischen 10 und 100 Gulden (also der „Mittelstand“). 45 Prozent zahlten bis 10 Gulden – und weitere 45 Prozent leisteten überhaupt keine Steuer. Die Steuerliste bezeichnet diese letzte Gruppe lakonisch als „Habenichtse“.

Aufgrund der günstigeren Wirtschaftsstruktur Nürnbergs waren die Verhältnisse hier wohl etwas erträglicher; trotzdem hat unlängst Rudolf Endres festgestellt, daß auch im Nürnberg der Dürerzeit mit mindestens 33 Prozent sozialer Unterschicht zu rechnen ist, von denen wieder die eine Hälfte ständig und die andere Hälfte bei der geringsten wirtschaftlichen Schwankung vollkommen von der öffentlichen Armenpflege leben mußte.

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