NSU-Terror in Nürnberg: Opfer rang jahrelang um Entschädigung

20.6.2019, 09:59 Uhr
NSU-Terror in Nürnberg: Opfer rang jahrelang um Entschädigung

© Karl-Heinz Daut, NN

Irgendwann hat Mehmet O. die Ungewissheit, wer ihm nach dem Leben trachten wollte, einfach nicht mehr ausgehalten. Eines morgens zu Beginn der 2000er Jahre verließ er Nürnberg Hals über Kopf, die Stadt, in der er aufgewachsen ist, in der seine Freunde wohnten und in der er Wirt sein wollte. Selbst seine Kleidung ließ er zurück. Nichts sollte mehr an dieses furchtbare Ereignis erinnern.

Das furchtbare Ereignis - ihm war ein sehr freudiger Tag vorausgegangen: Am Abend des 22. Juni 1999 hatte Mehmet O. (Name geändert) seine Familie und ein paar Freunde zu einer "Eröffnungsfeier" im engsten Kreis eingeladen. Mehmet hatte sich, dank der Unterstützung seiner Eltern, seinen Kindheitstraum erfüllt und mit 18 Jahren die Pilsbar "Sonnenschein" in der Scheurlstraße gleich hinterm Bahnhof gepachtet.

Am Morgen danach habe es "a weng ausg'schaut", erzählt O. nun dem gemeinsamen Rechercheteam von Nürnberger Nachrichten und Bayerischem Rundfunk, das den heute 38-Jährigen irgendwo in Deutschland ausfindig gemacht hatte. Also wollte er sich gleich ans Reinigen machen. Doch die Mutter hielt ihn zurück und schlug ihm vor, sie könne das übernehmen. Er sei "gottfroh", dass er ihr das habe ausreden können, sagt er rückblickend, denn sonst würde sie vielleicht nicht mehr leben.

Mehmet nahm also stattdessen Putzlappen und Schrubber zur Hand und machte sich in der Herren-Toilette zu schaffen, als ihm eine etwa 50 Zentimeter große Stabtaschenlampe unter dem Waschbecken auffiel, die er da noch nie gesehen hatte. Interessiert drehte und wendete er sie und knipste sie schließlich an. Von da an fehlen ihm Minuten der Erinnerung.

Die Wucht der Sprengstoff-Detonation hatte ihn bis zur Eingangstür katapultiert. Mit Splittern im Gesicht, an Armen und Beinen, Riss- und Schürfwunden am ganzen Körper kam er langsam zu sich, auf allen Vieren krabbelte er ins Freie. Acht Wochen lang konnte er sich nicht bewegen, musste gefüttert werden. Und während die Wunden langsam verheilten, wuchs die Angst immer stärker in ihm: "Wer kann das gewesen sein?"

Die Polizei verdächtige ihn, er habe die Explosion bewusst herbeigeführt, um die Versicherung zu betrügen. Sie spekulierte auch, ob Schutzgelderpressung im Spiel sei. Doch die Ermittlungen verliefen im Sande. Zermürbt kehrte Mehmet O. Franken schließlich 2004 den Rücken.

Erst im Jahr 2013 kam Bewegung in die Sache, als im Münchner NSU-Prozess um Beate Zschäpe herauskam, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos einem Unterstützer des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds verraten hatten, sie hätten in einer Nürnberger Kneipe "mal eine Taschenlampe abgestellt". Es handelte sich damit um die erste Tat des 1998 abgetauchten NSU-Kerntrios in Bayern.

Doch von all dem sagten die Beamten des Bundeskriminalamtes Mehmet O. nichts, als sie ihn im Juni 2013 aufsuchten und in einer mehrstündigen Vernehmung Hunderte Fotos von Neonazis und Rechtsradikalen vorlegten. Selbst als O. schließlich überrascht auf das Bild einer Frau tippte und sagte: "Die kenne ich, die geht mir nicht mehr aus dem Kopf!", dankten sie ihm nur und verschwanden ohne Erklärung.

Erst vom gemeinsamen Rechercheteam von NN und BR erfuhr Mehmet O. im vergangenen Jahr, wen er da identifiziert hatte: Es war Beate Zschäpes enge Freundin Susann E., die Ehefrau von André E., der im Münchner Prozess mitangeklagt war. "Es war ein Schock für mich", gesteht O. Von woher er Susann E. kannte, weiß er nicht mehr so genau: "Vielleicht war sie in meinem Laden drinnen, das kann auch sein. Aber irgendwo ist sie mir bekannt, ich sage das ja nicht umsonst."

Opferanwalt Mehmet Daimagüler kritisiert den Umgang der Behörden mit seinem Mandaten Mehmet O. Er habe im Sommer 2018 eine Entschädigungszahlung für O. beim Bundesamt für Justiz geltend gemacht. Daraufhin habe ihn die Behörde aufgefordert, sein Mandant müsse erst einmal nachweisen, dass der auf ihn verübte Anschlag "einen terroristischen Hintergrund" hatte.

"19 Jahre nach der Tat verlangt man von meinem Mandanten, dass er die Ermittlungsversäumnisse von Polizei und Staatsanwaltschaften ausbadet und das selbst nachweist. So kann man doch nicht mit Menschen umgehen. Das ist ein Skandal", findet der Jurist, der im NSU-Prozess die Geschwister Abdurrahim Özüdogru und die Tochter von Ismail Yasar, der beiden Nürnberger Opfer, vertreten hat.

"Das ist ein doch ein schlechter Witz"

Auch das Gebaren der Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes bringt Daimagüler in Rage. Sie hätten sich nicht die Mühe gemacht, den Mann darauf hinzuweisen, dass die neuerliche Vernehmung im Jahr 2013 im Zusammenhang mit dem NSU stand. Mit der Folge: "Mein Mandant hat weitere fünf Jahre in Angst gelebt, dass ihm jemand nach dem Leben trachtet." Außerdem sei Mehmet O. dadurch die Möglichkeit genommen worden, im NSU-Prozess als Nebenkläger aufzutreten. Daimagüler: "Das ist ein doch ein schlechter Witz, wie der Staat mit diesem Menschen umgegangen ist."

"Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin wurden die Opfer zu Recht sofort entschädigt, obwohl man lediglich ein Bekenntnis des IS hatte und keinen Prozess", fährt der Jurist fort. Im Fall seines Mandanten habe ein Mitangeklagter im NSU-Prozess, Carsten S., sogar ausgesagt, "dass das Bombenattentat in der Nürnberger Scheurlstraße im Zusammenhang mit dem NSU steht." Erst nach monatelangem Hin und Her und einer Klageankündigung hat Mehmet O. nun im vergangenen Monat 3000 Euro Entschädigung vom Staat bekommen. Sie seien nötig, kommentiert O.: "Ich musste schließlich nach der Explosion komplett neu anfangen." Auch seine Heimatstadt Nürnberg sieht er in der Verantwortung: Als Stadt der Menschenrechte müsse sie sich um die Opfer kümmern. Schließlich habe der NSU hier auch drei Morde verübt.

Für Anwalt Daimagüler ist die Sache mit der Entschädigungszahlung noch nicht erledigt. Er ist davon überzeugt, dass der NSU nicht ohne Helfer gehandelt hat. "Ich habe aber nicht den Eindruck, dass der Generalbundesanwalt und sonstige Staatsanwaltschaften mit Hochdruck ermitteln würden."

Bei der Bundesanwaltschaft hält man sich prompt weiter bedeckt. Nach wie vor liefen Ermittlungen gegen neun Beschuldigte sowie ein Verfahren gegen unbekannt, sagte eine Sprecherin auf Anfrage. Zum Fall Susann E. und einem möglichen Zusammenhang zum Anschlag in der Scheurlstraße meinte sie lediglich: "Wir gehen sämtlichen Hinweisen und Quellen nach."

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