Vom Glück, ein Kind begleiten zu dürfen

27.1.2018, 08:00 Uhr
Vom Glück, ein Kind begleiten zu dürfen

© monkeybusinessimages/iStock.com

"Mama!" Die kleine Lina (Name der Kinder und der Pflegemütter geändert) hat auf dem Tisch im Besprechungsraum des Jugendamtes die Lebkuchen entdeckt und zeigt mit dem Finger aufs Naschwerk. Ihre Pflegemutter Sophie Müller teilt lächelnd einen Lebkuchen und gibt der Eineinhalbjährigen ein Stück. Und zwei kugelrunde Augen blicken äußerst zufrieden drein. "Sie ist so unglaublich süß — aber das weiß sie auch!", sagt die 29-Jährige, die mit ihrem Mann einen kleinen Betrieb im Nürnberger Umland hat.

Den Wunsch, ein Pflegekind aufzunehmen, hatten beide. Und so gingen sie zum Info-Abend des Jugendamtes, absolvierten einen Vorbereitungskurs und meldeten ihr Interesse an. Plötzlich ging alles ganz schnell. Ob sie nicht auch ein Neugeborenes aufnehmen würden, wurde das Paar gefragt. Sophie Müller wollte das Kind kurz sehen: "Ich bin ins Krankenhaus gefahren und habe sie im Arm gehalten." Die Entscheidung war gefallen: Binnen kürzester Zeit organisierte das Paar Kinderkleidung, Baby-Zubehör, Autositz und holte die Kleine heim. Wickeln, Fläschchen geben und kurze Nächte — intensiv erlebte Sophie Müller diese erste aufregende Baby-Zeit. "Die Glückshormone waren ganz lange da."

Die eigene Familie habe das Paar in Sachen Pflegekind unterstützt, berichtet Sophie Müller. Doch Bekannte hätten im Vorfeld überwiegend kritisch reagiert: "Die gesellschaftliche Sicht ist hier ein bisschen negativ. Es wird zwar gelobt, dass dies eine tolle Sache sei — gleichzeitig heißt es: Um Gottes willen, das Kind kommt doch sowieso eines Tages wieder zu den Eltern zurück!"

"Leiblich oder nicht - das Kind gehört zu mir"

Während des Gesprächs schaut Sophie Müller immer wieder zu der Kleinen mit dem Lockenkopf, die neugierig den Raum erkundet und trotzdem den Blick der Mutter sucht. Dieser ständige Augenkontakt ist wie ein unsichtbares Band, das sie zusammenhält. "Leiblich oder nicht — für mich gehört sie zu mir", sagt denn auch Sophie Müller. Natürlich werde sie gefragt, ob sie nicht ein eigenes Kind haben wolle. Dieser Wunsch sei derzeit nicht so groß, antwortet sie dann. Sophie Müller formuliert es so: "Manche brauchen dieses Gefühl: Das ist mein Kind, es gehört zu mir." Doch ihr genüge es voll und ganz, der kleinen Lina ein Zuhause auf Zeit geben zu dürfen: "Ich bin froh, dass ich ein Stück Weg mit ihr gehen kann."

Dass die leibliche Mutter eines Tages vielleicht in der Lage sein wird, sich um ihr Kind zu kümmern — der Gedanke taucht immer wieder mal auf. Dennoch sagt Sophie Müller: "Angst ist ein schlechter Begleiter, ich schiebe die Vorstellung weg. Mir geht es darum, dass ich Lina unterstützen und begleiten kann."

Jede Mutter, jeder Vater weiß: Ein Kind aufzuziehen, ist erfüllend, aber eben auch anstrengend und nervenaufreibend. Auf Pflegeeltern warten zusätzliche Herausforderungen: Diese müssen den Kontakt des Kindes zu den leiblichen Eltern fördern und gewährleisten — und werden mitunter als Konkurrenten in der Gunst ums Kind empfunden. Auch Sophie Müller hatte auf ihre Weise zu kämpfen — die leibliche Mutter ließ nach drei Treffen den Kontakt zu Lina einschlafen. "Das hat mich traurig gemacht", bekennt sie. Und lange war sie davon überzeugt: Zum ersten Geburtstag des Kindes werde sich die Mutter sicher melden. "Doch es kam nichts — ich habe jetzt akzeptiert, dass es so ist."

Vom Glück, ein Kind begleiten zu dürfen

© Kinderschutzbund

Das Jugendamt der Stadt Nürnberg sucht laufend Menschen, die sich diese Aufgabe vorstellen können. "Der Bedarf ist groß", sagt denn auch Gisela Duschl vom Jugendamt. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Kinder, die nicht mehr bei den leiblichen Eltern leben können, stetig gestiegen: So kümmerten sich im Jahr 2010 im Auftrag des Jugendamtes Pflegeeltern um 470 Mädchen und Jungen, 2017 wurden 580 Kinder von Pflegeeltern betreut. Zudem finden in Wohngruppen des Kinder- und Jugendhilfezentrums Reutersbrunnenstraße, das Gisela Duschl leitet, Kinder Unterschlupf, deren Eltern sich nicht um sie kümmern können. "Wir brauchen laufend Pflegeeltern", sagt Duschl.

Gesucht werden nicht nur junge Menschen wie Sophie Müller, sondern auch erfahrene Interessierte — wie Brigitte Berger. Die 57-Jährige hat mit ihrem Mann zwei leibliche Kinder großgezogen. Als Tochter und Sohn das Haus verließen, da war "das Nest plötzlich leer", wie sie sagt. Dabei wollte das Paar immer eine große Familie haben — doch aus gesundheitlichen Gründen konnte die Mutter keinen Nachwuchs mehr kriegen. Zwei Kinder aufzuziehen, das ist aber auch keine schlechte Leistung. "Wir waren sturmerprobt", wie Brigitte Berger es nennt.

Deshalb bewarb sich das Ehepaar um Geschwisterkinder — und bekam Martin und Katy. Und nach kurzer Zeit war wieder jede Menge Leben im Haus: Denn die eigene Tochter suchte nach einer unglücklichen Beziehung Zuflucht bei den Eltern, der Sohn brauchte nach einer abgebrochenen Ausbildung eine Bleibe. "Dann war das Nest wieder voll", erinnert sich Brigitte Berger und lacht ansteckend laut. Eine intensive Zeit sei dies gewesen — die leiblichen Kinder hätten sich oft um das kleinere Geschwisterpaar gekümmert, das Zusammenleben habe gut funktioniert. Auch wenn die leiblichen Kinder bald wieder hinaus in die Welt zogen, hat sich der Traum von einer großen Familie erfüllt: Vor drei Jahren nahm das Paar ein siebenjähriges Pflegekind auf, vor einigen Tagen kam ein vierjähriges Mädchen dazu.

Eine Extra-Portion Liebe, Zeit und Geduld

Die 57-Jährige ist ein offener, sympathischer Mensch und strahlt eine große Lebenserfahrung und Mütterlichkeit aus. Doch sie sagt auch: "Es ist nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen." Jedes Pflegekind schleppe eben auch einen Rucksack mit Sorgen, Leid und schlechten Erfahrungen mit sich herum — und brauche oft eine Extra-Portion Liebe, Zeit und Geduld. Doch manchmal, da sei man auch etwas hilflos. "Wenn man sieht, dass das Kind an sich und an der Situation leidet — und man steht daneben und findet in diesem Moment nicht den richtigen Zugang."

Brigitte Berger hört dann auf ihr Bauchgefühl. Wie etwa bei Pflegesohn Martin, heute 16 Jahre alt: Als dieser vor mehr als zehn Jahren in die Familie kam, spielten seine Gefühle immer wieder verrückt. Brigitte Berger schnappte sich dann den Jungen und ging mit ihm hinaus in den Wald: "Er hat dann kiloschwere Baumstämme geschleppt, ist herumgerannt — das hat er in diesem Moment gebraucht."

Auch dem Ehepaar Berger ist der Kontakt zu den Eltern der Kinder wichtig. Und diese bedanken sich auf ihre Weise, dass die eigenen Kinder ein neues Zuhause haben: "Ein Vater hat das ganze Jahr über gespart, um uns alle zum Gansessen ins Lokal einladen zu können."

In ihrem eigenem Umfeld wird Brigitte Berger immer wieder mit der Haltung konfrontiert: "Wie kann man nur sein eigenes Kind weggeben, was haben diese Leute denn angestellt?" Sie selbst entgegnet dann: "Die Mütter haben eine gute Entscheidung für ihr Kind getroffen und in die Pflege eingewilligt - davor habe ich Hochachtung!" Jedes ihrer Kinder sehe die Welt anders. Auch für sie ist es großes Glück, ihre Schützlinge für eine gewisse Zeit zu begleiten: "Es ist so wunderbar, sich auf einen kleinen Menschen einzulassen und zu sehen, wie sich dieser entwickelt."

Mehr Informationen:

Laufend gibt es unverbindliche und kostenlose Info-Abende im Kinder- und Jugendhilfezentrum (KJHZ), Reutersbrunnenstraße 34: Die nächsten Veranstaltungen sind am Donnerstag, 22. Februar, sowie am 19. April und 21. Juni, jeweils von 19 bis 21 Uhr. Pflegeeltern werden geschult, regelmäßig gibt es Fortbildungen und Gruppenangebote für Pflegefamilien. Das Jugendamt der Stadt Nürnberg kooperiert bei diesem Thema mit drei freien Trägern, die eine allgemeine und persönliche Beratung von Interessierten bieten: Die Rummelsberger Dienste für junge Menschen gGmb H informieren unter www.jugendhilfe-rummelsberg.de und sind erreichbar unter Pflegekinderdienst@rummelsberger.net und unter der Telefonnummer 58079810.

Das SOS-Kinderdorf Nürnberg informiert unter www.sos-kinderdorf-nürnberg.de sowie jh-nuernberg@sos-kinderdorf.de und unter der Rufnummer 9298317.

Der Sozialdienst katholischer Frauen, Adoptions- und Pflegekinderdienst gibt Auskunft unter pflegekinderdienst@skf-nuernberg.de und www.skf-nuernberg.de und auch unter Telefon 31 07 80.

Das Jugendamt ist erreichbar unter www.jugendamt.nuernberg.de und pflege-adoption@stadt.nuernberg.de sowie unter der Telefonnummer 2314168.

Keine Kommentare