Psychiater sucht nach Motiv: Messerangriff als erweiterter Suizid-Versuch?

10.3.2021, 14:42 Uhr
Der Mordversuch wird im neuen Strafjustizzentrum an der Fürther Straße verhandelt. 

© Foto: Stefan Hippel Der Mordversuch wird im neuen Strafjustizzentrum an der Fürther Straße verhandelt. 

Am 16. Juni 2020 saßen die Männer im Biergarten "Frankenstube" in Roth. Der Angeklagte Martin O. (Namen der Betroffenen geändert) hatte ein Cordon bleu mit Kartoffelsalat verzehrt, er trank sechs bis sieben halbe Bier, dazu vier Schnäpse. Einige Tische weiter wurde an jenem Abend gekartelt, zwei Männer und eine Frau aus dieser Gruppe machten sich, ebenso wie Martin O., gegen 22 Uhr von der Speisegaststätte auf den Weg nach Hause. In der Max-Planck-Straße trat Martin O. plötzlich dicht hinter diese Gruppe und stieß einem der Männer ein Messer in die Wange.

Diese Bluttat räumte Martin O. bereits zum Auftakt der Hauptverhandlung vor der 19. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth ein - doch einen Grund für seine Attacke will er auch am dritten Prozesstag nicht nennen.

In der Gaststätte fiel nicht ein böses Wort

"Es muss schon sehr viel passieren, dass er aggressiv wird", kommentiert ein Zeuge, auch er ein Stammgast in dem Biergarten, ein "alteingesessener Rother", wie er sich selbst nennt. Auch er genoss jenen Abend in der Speisegaststätte, bestätigt, dass dort nicht ein böses Wort gefallen ist, sich zwischen den Gästen nicht einmal ein kleiner Streit angebahnt hatte.

Martin O. kenne er zwar nur oberflächlich, doch hin und wieder habe man sich unterhalten, nie sei ihm der Mann unangenehm aufgefallen. Martin O. sei eine unauffällige Erscheinung, ein freundlicher Zeitgenosse, immer friedlich. Nicht einmal, wenn er einige Halbe getrunken hatte, schlug er über die Stränge.


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Wieso also kam es in jener Nacht zu dem heimtückischen Angriff? Dies bleibt die offene Frage für Staatsanwalt Daniel Hader und die Richter der 19. Strafkammer. So sind in dieser Hauptverhandlung die Gutachter gefragt: Wie gefährlich war der Angriff, was ging hinter der Stirn des Angeklagten vor - und hat er überhaupt gesehen, wen er angegriffen hat?

Ein Diplom-Ingenieur des Landeskriminalamtes beschreibt ausführlich die Lichtverhältnisse jener Nacht. Schon angesichts des Wetters in dieser klaren Sommernacht und der Straßenbeleuchtung bestehe kein Zweifel: Martin O. habe sein Opfer in der Max-Planck-Straße klar sehen können, weder Autos noch Bäume versperrten ihm die Sicht.

Bogenförmige Verletzung auf der Wange

"Potentiell lebensgefährlich" nennt Professor Dr. Peter Betz den Angriff. Der Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsmedizin und Direktor des Erlanger Instituts für Rechtsmedizin unterscheidet zwischen Schnitt und Stich - ein Foto des Geschädigten, es zeigt die erlittene Verletzung auf der linken Wange, wird im Gerichtssaal auf eine Leinwand projiziert. Ein Schnitt, so erläutert Betz, verlaufe breiter und weniger tief, ein Stich dagegen dringe tiefer in das Fleisch ein. Hier sei deutlich der bogenförmige Verlauf der Verletzung zu sehen, die Wunde sei an einer Stelle tiefer und laufe seicht aus, der Täter habe zugestochen.

Die Verletzung ist nahe am Unterkiefer, dort ist die Arteria facialis, die Gesichtsschlagader, tastbar. Sie entspringt der Halsschlagader - und da für einen Angreifer kaum zu kalkulieren sei, wo ein Stich treffen würde, "wäre eine spritzende, arterielle Blutung ebenso denkbar gewesen", sagt der Rechtsmediziner. Wird die Blutung nicht schnell gestoppt, wird es gefährlich. Grundsätzlich bestehe auch die Gefahr einer Wundinfektion, schließlich seien die Klingen, Martin O. hatte sein Brotzeitmesser als Waffe benutzt, nicht steril.

Betrunken, doch voll steuerungsfähig

Handelte Martin O. im Wahn? Trieb ihn eine verhängnisvolle Mischung aus Alkohol und Aggression an? Darauf soll der psychiatrische Sachverständige Dr. Timucin Türker eine Antwort geben. Er hat Martin O. im September 2020 in der U-Haft besucht und lernte einen Mann kennen, der mit zwei Geschwistern in geordneten Verhältnissen in Schwabach aufwuchs. Martin O. legte an der Hauptschule einen Abschluss ab, er absolvierte eine Ausbildung als Schlosser und leistete Wehrdienst bei der Bundeswehr. Er führte ein unauffälliges Leben - bis ihn im Jahr 2010 Angstzustände quälten.

Eine psychische Erkrankung, die er mit Benzodiazepinen in den Griff bekam - dies jedoch mit dem Preis der Sucht bezahlte. Die Abhängigkeit von diesen Medikamenten, so erläutert der Psychiater, werde aus medizinischer Sicht in Kauf genommen. Nur so könne Patienten wie Martin O. eine bessere Lebensqualität ermöglicht werden. O. ist aufgrund seiner Krankheit seit 2011 Frührentner, er lebt von knapp 1000 Euro im Monat.

Höchstens 1,7 Promille

Problematisch, so erklärt der Gutachter, sei jedoch die Wechselwirkung mit Alkohol; Martin O. hatte lange auf Alkohol verzichtet, doch im Jahr 2019 wieder begonnen, zu trinken. O., so sagt Dr. Türker, neige dazu, seine Trinkmengen zu bagatellisieren.

Als Martin O. in jener Nacht auf Kurt N. losging, wurden Anwohner aufgrund des Lärms aufmerksam, sie alarmierten die Polizei. Martin O. hatte zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 1,81 Promille und stand unter dem Einfluss von Benzodiazepin, Venlafaxin, Alprazolam, Opipramol, Pregabalin sowie Antidepressiva, heißt es in der Anklageschrift. Psychiater Türker rechnet dagegen vor: O. hatte höchstens 1,7 Promille - und dass dieser Wert die Einsicht des Martin O. und dessen Fähigkeit, sich zu steuern, beeinträchtigt hat, glaubt der Facharzt nicht.

Er hält es für denkbar, dass Martin O. - er hatte gerade seine Wohnung verloren und fürchtete die Obdachlosigkeit - aus dem Leben scheiden wollte. "Eventuell wollte er jemanden mitnehmen, im Sinn eines erweiterten Suizids", so Türker. Möglich sei auch, dass sich O. eine lange zurückliegende Kränkung durch den Geschädigten eingebildet habe. Einen Streit kann es möglicherweise gar nicht gegeben haben.

Freiheitsstrafe, Therapie und Entziehungskur

Seine Empfehlung: Er vermutet, dass Martin O., bliebe er unbehandelt und ohne Therapie, auch nach einer Haftentlassung wieder trinken würde und erneut straffällig werden könnte. Er rät daher neben einer Freiheitsstrafe, über die von den Richtern der 19. Strafkammer entschieden wird, zu einer Therapie und zu einer Entziehungskur. In etwa einem Jahr könnte es Martin O. schaffen, von den Medikamenten loszukommen und sich einem anderen Behandlungsansatz zu stellen. Der Prozess geht weiter.