Schlussstrich nach 75 Jahren – vielleicht

28.12.2018, 09:30 Uhr
War der Samstag Anna Bettschnitts letzter Markttag? „Im Frühjahr schau’ mer mal“, sagt die 91-Jährige. Im Angebot hatte sie noch einmal Äpfel, Rosenkohl (Bilder unten), Salat, kleine Zwiebeln, selbst gepressten Apfel- und Birnensaft, Mistelzweige und ein paar Trockenblumen-Gestecke. „Vor allem der Rosenkohl geht heute ganz gut“, sagte sie.

© Fotos: Robert Gerner War der Samstag Anna Bettschnitts letzter Markttag? „Im Frühjahr schau’ mer mal“, sagt die 91-Jährige. Im Angebot hatte sie noch einmal Äpfel, Rosenkohl (Bilder unten), Salat, kleine Zwiebeln, selbst gepressten Apfel- und Birnensaft, Mistelzweige und ein paar Trockenblumen-Gestecke. „Vor allem der Rosenkohl geht heute ganz gut“, sagte sie.

Zum Abschied weint der Himmel. Ein letztes Mal ist Anna Bettschnitt am Samstag vor Weihnachten mit ihrem Stand auf dem Schwabacher Wochenmarkt vertreten. Zeitweise schüttet es wie aus Kübeln. Der Wind zerzaust das weiße Haar der 91-Jährigen. Doch einfach abbrechen? Das kommt für die Marktfrau mit ihrem kleinen Stand nicht in Frage. "Ich bin ganz zufrieden", sagt sie. Bis 10 Uhr hat sie schon fast ihren ganzen Rosenkohl verkauft, den sie tags zuvor zu Hause mühsam geputzt hat.

Wobei man sagen muss: Das große Geschäft ist mit dem kleinen Stand heutzutage nicht mehr zu machen. "Wenn die Mutter an einem Samstag mit 30 oder 40 Euro nach Hause kommt, dann ist das inzwischen schon viel", erzählt Alfred Bettschnitt, ihr Sohn. Bei seinen Großeltern und Urgroßeltern war das noch anders. Die waren hauptberufliche Landwirte, und die Marktsamstage in Schwabach waren ein richtig gutes Zusatzgeschäft, erzählt der 56-Jährige.

In den 1950-er und 1960-er Jahren, in der Zeit vor den großen Supermärkten und Discountern, da haben die Kunden bei den Bettschnitts im Frühjahr nicht zwei Pfund Kirschen gekauft wie heute, sondern gleich fünf Zentner auf einmal. "Der Opa ist manchmal am Samstag mit 1000 Mark in der Tasche heimgekommen, das ging damals noch richtig gut", so Bettschnitt.

Schlussstrich nach 75 Jahren – vielleicht

Er selbst hat sich vom Marktleben längst verabschiedet, sieht man einmal davon ab, dass er seine Mutter samstags nach Schwabach fährt, für sie den Stand aufbaut und sie am Nachmittag wieder abholt. Eigentlich wollte er der 91-Jährigen schon das finale Stop-Zeichen setzen. "Aber was soll ich machen, es ist halt ihr Leben", sagt er.

Anna Bettschnitt ist seit 1943 auf dem Schwabacher Wochenmarkt. Mindestens seit 1943. Denn sogar schon noch früher, als kleines Mädchen, durfte sie hin und wieder ihre Großeltern begleiten. Damals wurden die Waren von einem Hänger nach Schwabach gebracht, den ein Pferd zog. Die kleine Anna radelte mit dem Fahrrad hinterher. Als 16-Jährige übernahm sie dann selbst Verantwortung. "Mir hat das immer gefallen, wenn man mit den Leuten zusammenkommt, wenn man mit ihnen reden kann."

Nur noch kleine Mengen

Doch das Geschäft ist schwieriger geworden. Die Zahl der Kunden sinkt. Und die meisten kaufen nur noch kleine Mengen. "Aus wirtschaftlicher Sicht darf man sich das gar nicht genau anschauen", sagt Sohn Alfred, da kommt die Mutter vielleicht auf einen Stundenlohn von einem Euro." Wenn er dann noch die Versicherung für den Hänger und den Sprit mit einrechnen würde, "dann wär’s vielleicht ein Nullsummenspiel", so Bettschnitt.

Doch ums bloße Geldverdienen ging es Anna Bettschnitt ja nie. "Meine Freundinnen von früher haben sich nie für den Markt begeistern lassen, ich dagegen war von Anfang an fasziniert."

Schlussstrich nach 75 Jahren – vielleicht

Das Warenangebot hat sich bei den Bettschnitts in 75 Jahren nicht groß geändert. Im Herbst und Winter, das ist auch an diesem Samstag zwei Tage vor Heiligabend so, liegen ein halbes Dutzend verschiedene Apfelsorten aus. Auch Birnen, Brombeeren, Johannisbeeren und anderes Obst vertreibt die 91-Jährige im Sommer und im Herbst. Das alles wächst in einem zwei Hektar großen Obstgarten in Roßtal-Oedenreuth, der witzigerweise genau so alt ist wie seine Besitzerin: "Angelegt 1927", erzählt Alfred Bettschnitt stolz, die knapp 100 alten Obstbäume haben inzwischen gewaltige Ausmaße und tragen immer noch reichlich.

Zweites Standbein neben dem Obst auf dem Bettschnitt-Stand ist das Gemüse, ebenfalls aus eigenem Anbau. Bis vor sechs Jahren ihr Mann starb, wohnte Anna Bettschnitt auf einem alten Bauernhof in Fürth-Sack, danach zog sie zu ihrem Sohn nach Roßtal. Allerdings nicht ohne die Zusage von Alfred, für sie ein zwölf Meter langes Gewächshaus zu bauen. Dort gedeihen Tomaten und Paprika, aber auch Rosenkohl, Bohnen, Zwiebeln Salat und andere gesunde Leckereien. Das Nürnberger Knoblauchsland auf 40 Quadratmetern.

Hilfe von der Familie

Bei der Gemüseernte wird Anna Bettschnitt von der Familie unterstützt, zum Obstgarten nach Oedenreuth fährt sie nach wie vor mit dem Auto. Doch auf die bis zu zehn Meter hohe Leiter lässt sie ihr Sohn nicht mehr seit einem Sturz und einem Oberschenkelhalsbruch vor zwei Jahren.

Danach musste sie eine Pause einlegen, aber keine allzu lange. "Mutter ist hart im Nehmen, sechs Wochen nach der Operation war sie wieder auf dem Markt", erinnert sich Alfred Bettschnitt. Auch sonst kann sich die 91-Jährige nicht an große Fehlzeiten erinnern. "Krank war ich eigentlich nie." Und Urlaub machte sie erst in späteren Jahren einmal pro Jahr für zwei Wochen mit ihrer Schwester. Immer dann, wenn die letzten Äpfel vom Herbst verkauft und das erste Obst und das erste Gemüse vom neuen Jahr noch nicht erntereif waren.

Doch jetzt, nach 75 Jahren als Marktfrau in Schwabach, will Anna Bettschnitt — mindestens — eine längere Pause einlegen. Am Samstag hatte sie zum vorerst letzten Mal ihren Stand aufgebaut. Im Winter bleibt sie jetzt zu Hause, "es sind ja ohnehin nur noch ein paar Zentner Äpfel übrig".

Und im Frühjahr 2019: Anna Bettschnitt denkt kurz nach, lacht dann verschmitzt und schaut auf ihren Sohn. Alfred Bettschnitt schlägt kurz die Hände über den Kopf zusammen. Aber wenn es soweit ist, dann wird er ihr ihren größten Wunsch vermutlich nicht abschlagen können: weiter Standbetreiberin auf dem Wochenmarkt in Schwabach sein.

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