Seit dem tragischen Unfall: Das zweite Leben des Bernd Jörka

24.12.2013, 08:00 Uhr
Seit dem tragischen Unfall: Das zweite Leben des Bernd Jörka

„Ich kann Ihnen sagen, dass die Decke weiß ist. Auf die starre ich ja immerzu.“ Jörka sagt das so, dass es gar nicht bitter klingt. Eher verschmitzt. Dabei hätte der 51-Jährige aus Kleinschwarzenlohe genug Grund zum Klagen und zum Hadern. Seit einem tragischen Unfall ist er vom Hals ab gelähmt. Ein wacher Geist in einem weitgehend stillgelegten Körper, über den er keine Gewalt mehr hat.

Seit dem tragischen Unfall: Das zweite Leben des Bernd Jörka

© Gerner

Der 27. Juli 2013 ist einer der heißesten Tage des Jahres. Schwabach rüstet sich zum zweiten Tag des Bürgerfestes. In Kleinschwarzenlohe treffen auf dem Sportgelände Hobbykicker ein. Ein Gauditurnier, immer Sieben gegen Sieben auf kleinem Feld mit kleinen Toren. Im Tor der Mannschaft „Frank’nstrass“ steht: Bernd Jörka.

Süßes von zuhause

Bernd Jörkas Frau Angelika hat eine resolute, zupackende Art. „Hör’ mal auf zu plappern“, sagt sie und wedelt vor seinen Augen mit einer Kuchengabel Bienenstich, den sie mitgebracht hat. „Lecker“, sagt Jörka, „man merkt gleich, dass er nicht von hier ist“. Bernd Jörka liegt seit vielen Monaten im Klinikum Hohe Warte in Bayreuth. Die Oberfranken sind Spezialisten für Verletzte mit allen Arten von Lähmungen. Unter den Dutzenden von Patienten hat es den Kleinschwarzenloher besonders schwer erwischt.

Es gibt in Deutschland nur etwa 1000 Tetraplegiker, also Menschen, die weder Arme noch Beine bewegen können. Der bekannteste ist der junge Samuel Koch, der sich vor drei Jahren bei „Wetten dass...?“ beim Sprung über Autos vier Halswirbel gebrochen hat.

Clubfan und Musiker

Bernd Jörka ist begeisterter Fußballfan. „Als Clubberer ist man leidensfähig“, lautet einer seiner Sprüche. Doch selbst spielen? Eher nicht. Lieber nimmt der freiberufliche Musiker Klarinette, Saxophon oder Gitarre in die Hand. Aber an diesem letzten Juli-Samstag kann er nicht Nein sagen. Eine verhängnisvolle Entscheidung.

Bis vor kurzem konnte Bernd Jörka sein Bett zumindest wieder stundenweise verlassen. Er hat inzwischen einen High-Tech-Rollstuhl im Wert von rund 40000 Euro, den er mit dem Kinn steuern kann. Doch nachdem er sich wundgelegen hat, ist er jetzt wieder 24 Stunden am Tag ans Bett gebunden. Abwechslung gibt es wenig.

Wenn nicht gerade Therapeuten kommen, um Arme, Beine und Finger zu bewegen oder Reizströme durch seinen Körper schicken, vertreibt er sich mit einem winzigen 7-Zoll-Fernseher („mein Mäusekino“) die Zeit. Oder mit „James“, einem über Sprache gesteuerten elektronischen Diener, mit dessen Hilfe er beispielsweise telefonieren kann.

Kleiner Hoffnungsschimmer

Der Kleinschwarzenloher weiß, dass er behindert bleiben wird. Aber er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er im Lauf der Zeit einen kleinen Teil seiner Mobilität zurück gewinnt. Er spürt ein Kribbeln in den Oberarmen und den Ellbogen, das manchmal bis hinunter zu den Handgelenken geht. Inzwischen kann er wieder mit den Schultern rollen. Er hatte von Anfang an keine Probleme mit der Atmung, was seine Therpeuten, was die weitere Entwicklung angeht, optimistisch stimmt

Doch der nur wenige Zentimeter entfernte Kaffee ist für ihn unerreichbar. Jörkas Tochter Samira, er nennt sie liebevoll „Sam“, hält ihm die Tasse mit einem Strohhalm an den Mund.

Bernd Jörka ist an diesem heißen Juli-Samstag kein schlechter Torhüter. „Er hat einige Bälle richtig gut gehalten“, erinnert sich seine Frau später, die ihm zuschaut und ihn anfeuert. Und die Flanke, die jetzt auf sein Tor zusegelt, sollte ebenfalls kein Problem sein...

Angelika Jörka hat ihrem Mann eine ordentliche Brotzeit mitgebracht. Fränkische Hausmannskost. Die „Essensgabe“, wie Jörka sagt, übernimmt sie selbst, weil die Pflegekräfte im Stress sind. Essensgabe ist ein technischer Begriff. Man könnte auch sagen: füttern.

Viel Hilfe und viele Aufgaben

Mehr als Bernd Jörka hadert Angelika Jörka mit dem Schicksal. Zumindest manchmal. „Das, was uns passiert ist, wünscht man seinem ärgsten Feind nicht“, sagt sie. Die Pläne für den behindertengerechten Umbau des vor sieben Jahren bezogenen Reihenhauses in Kleinschwarzenlohe gehen voran. Hilfe gibt es von vielen Sponsoren, aber auch vom Sozialdienst des Krankenhauses. Wer weiß schon, wo man eine Aufzugsrampe kaufen kann, mit deren Hilfe Bernd Jörka in einigen Monaten wieder in seine eigenen vier Wände rollen kann?

Und dann der ganze Papierkram. Auch an diesem Tag in Bayreuth bekommt Angelika Jörka wieder seitenweise Formulare mit nach Hause. Sie muss für ihren Mann entscheiden. Denn Bernd Jörka kann ja nicht unterschreiben.

Als der Ball vor sein Tor fliegt, packt Bernd Jörka zu. Er hält das Spielgerät fest und stößt dabei mit dem Kopf gegen die Brust eines Gegenspielers. Sein Kopf wird nach hinten gerissen. Der zweite und dritte Halswirbel brechen, der vierte wird angeknackst. Bernd Jörka sieht, wie sich das Kleinschwarzenloher Sportheim zu drehen beginnt.

Das Leben neu organisieren

Es hat Phasen gegeben, in denen sich Angelika Jörka gefragt hat, ob sie das alles schafft. Sie kann ihren Mann keine 24 Stunden umsorgen, weil sie selbst arbeiten geht. Übernimmt das die Diakonie? Werden polnische Haushaltshilfen engagiert? Bei Jörkas wird nichts mehr so sein, wie es war.

Doch Bernd Jörka, was soll er auch anderes tun, macht Zukunftspläne. Vielleicht kann er später einmal die Verwaltungsarbeiten für die Rednitzhembacher Jugendkapelle übernehmen, deren Betreuer er seit vielen Jahren ist. „Die Hoffnung habe ich.“ Die Technik ist heute soweit, dass man alleine mit Sprache ein Stück Mobilität ersetzen kann. Vielleicht kann er auch wieder Musikunterricht geben, auch wenn er selbst nichts mehr vorspielen kann.

Mut macht ihm die Welle der Hilfsbereitschaft in Kleinschwarzenlohe, in Rednitzhembach. Viele tausend Euro sind bei Benefizabenden eingespielt worden. Möglicherweise gibt es Geld von der Franz-Beckenbauer-Stiftung oder von der Antenne-Bayern-Stiftung. Geld gibt es in jedem Fall vom Verlag Nürnberger Presse. Denn Jörkas Fall war der erste, der in diesem Jahr in unserer Zeitung im Rahmen der Aktion „Freude für alle“ vorgestellt wurde.

Das Geld ist auch dringend nötig. Denn zu allem Unglück, das Bernd Jörka ereilt hat, kommt noch ein weiteres hinzu: Er hatte keine Unfallversicherung, die für die Folgekosten einspringen würde.

Das Kleinschwarzenloher Sportheim verliert Bernd Jörka aus den Augen. Er landet auf dem Rücken. Im Fallen hat er den Ball losgelassen. Loslassen müssen. „Ich spüre meine Beine und meine Arme nicht mehr“, sagt er zu seinen Mitspielern.

Selbstverständlich hat Bernd Jörka vor kurzem die sehenswerte ZDF-Reportage über Samuel Koch, den gelähmten „Wetten dass...?“-Kandidaten gesehen, der sich beim Versuch, mit Hilfe von Sprungfedern über Autos zu springen, vier Halswirbel gebrochen hat. Drei Jahre später ist Koch so etwas wie der Popstar unter den Tetraplegikern. Er hat ein Buch geschrieben, studiert, ist als Schauspieler unterwegs und hält Vorträge vor Tausenden von Menschen.

Aber: Zu sehen war auch jener Samuel Koch, dessen Gliedmaßen spastisch zucken, sobald der gelähmte Körper aus dem Rollstuhl gehoben wird; zu sehen war, wie Kochs Bruder mehrmals am Tag mit Urgewalt den Schleim aus Kochs Lunge presst. Abhusten kann er ihn ja nicht. „Für mich war es trotzdem ein ermutigender Film“, findet Bernd Jörka. Weil er gezeigt hat, wie lebenswert auch ein Leben mit so großen Einschränkungen sein kann. Und weil er gezeigt hat, dass Gelähmte nach Jahren mit viel Therapie, viel Kampf und viel Geduld noch Fortschritte machen können. Samuel Koch kann jetzt, wenn man ihn richtig in Position bringt, wieder stehen. Wie ein „Kopf, freischwebend im Raum“, hat er sich dabei gefühlt.

Bernd Jörka kennt den Film „Ziemlich beste Freunde“. Der warmherzig erzählte französische Kinostreifen schildert die wahre Geschichte des vom Hals abwärts gelähmten Industriellen Philippe Pozzo di Borgo, der durch seinen vorbestraften Pfleger wieder neuen Lebensmut fasst. Jörka, ebenso gelähmt wie der Titelheld des Films, schaute sich den Streifen im Krankenhaus an, an einem dieser unendlich langen Abende. „Ich habe mich fast kaputt gelacht“, erzählt er.

Die Sanitäter erkennen sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Sie fordern den Rettungshubschrauber an. Der kann Patienten, die sich eine schwere Halswirbelverletzung zugezogen haben, schonender transportieren.

An der Wand links von Bernd Jörkas Bett hängt eine große Tafel. Jörka kann sie sehen, wenn er den Kopf leicht dreht. Angelika Jörka hat darauf viele gute Wünsche und Genesungskarten gepinnt. Wenn neue Briefe kommen, liest Angelika Jörka sie vor. Bernd Jörka alleine kann das nicht. Dazu müsste er ja die Karte mit den Händen halten können.

Im Krankenhaus hat er auch zwei Tonaufnahmen liegen. Eine vom Benefizabend in Kleinschwarzenlohe, eine vom Benefizkonzert der Jugendkapelle in Rednitzhembach. „Die haben wirklich schön gespielt, ich bin sehr zufrieden“, erzählt Jörka. Die Welle der Hilfsbereitschaft, die er bis nach Oberfranken spürt, „sind eine der wenigen positiven Aspekte meiner Geschichte“. Am dritten Adventssonntag kam sogar eine 30-köpfige Abordnung der Jugendkapelle nach Bayreuth und gab im Krankenhaus ein Konzert. Bernd Jörka saß in seinem Rollstuhl dabei und hörte zu. Es war eine glückliche Stunde für ihn.

Der Rettungshubschrauber, der auf dem Kleinschwarzenloher Sportplatz landet, bringt Bernd Jörka nur wenige Kilometer weiter ins Klinikum Nürnberg Süd. In einer Operation werden die zwei gebrochenen Halswirbel mit viel Stahl versteift. Eine gefährliche Operation. Im Prinzip aber auch Routine für erfahrene Chirurgen.

Bernd Jörka hat Glück mit seinem Bettnachbarn. Der 71-jährige Dieter ist nicht nur Zimmer-, sondern auch Leidensgenosse. Der Rentner aus Niederbayern war nachts auf dem Weg zur Toilette ausgerutscht und mit dem Kopf gegen den Türrahmen geknallt. Auch er brach sich einen Halswirbel, kann aber immerhin noch mühsam die Hände bewegen. So schaufelt er eine vorgeschnittene Currywurst hinein.

Am Zweiten Weihnachtsfeiertag wollte Bernd Jörka nach Hause. Nur für ein paar Stunden, aber immerhin. Er hatte sich darauf gefreut. Die Aktion musste abgeblasen werden. Weil er sich wund gelegen hat, muss er vorerst im Bett bleiben. So müssen sich er und seine Frau schon nicht überlegen, ob sie sich die 250 Euro, die der Transport von Bayreuth nach Kleinschwarzenlohe und wieder zurück gekostet hätte, leisten hätten.

Nach dem Abendessen muss Jörka viele Tabletten schlucken. Antibiotika gegen eine Harnwegsinfektion. Ein Mittel gegen die oben bei Samuel Koch beschriebenen unkontrollierten Spastiken, eine weitere Pille, die die Nebenwirkungen der anderen unterdrückt. Sie bleibt im Hals stecken. Bernd Jörka bekommt keine Luft mehr, läuft rot an. Seine Tochter Samira reagiert schnell, fährt den Kopfteil des Bettes hoch und hält ihrem Vater ganz schnell ein Glas Wasser mit einem Strohhalm hin. Jörka trinkt, schluckt, atmet durch. Aus einem Augenwinkel läuft eine Träne. Selbstverständlich ist in Bernd Jörkas Leben nichts mehr.

Der schwere Unfall von Bernd Jörka an diesem heißen Juli-Samstag ist für viele ein Schock. Die Kicker der „Frank’nstrass“ und der Kerwaboum können und wollen nicht mehr weiterspielen. Aber es sind ja auch noch andere Mannschaften dabei. Als der Hubschrauber mit dem wachen Geist und dem kaputten Körper von Bernd Jörka entschwunden ist, wird das nächste Spiel angepfiffen.

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