Drama mit Oscar-Preis

"The Whale": Ein krankhaft fetter Mensch und sein Versuch, Hoffnung zurückzugewinnen

27.4.2023, 16:57 Uhr
Brendan Fraser ist Charlie, der Wal. Für seine Rolle als verzweifelter Literaturdozent bekam der US-amerikanisch-kanadische Schauspieler einen Oscar.  

© A24/dpa Brendan Fraser ist Charlie, der Wal. Für seine Rolle als verzweifelter Literaturdozent bekam der US-amerikanisch-kanadische Schauspieler einen Oscar.  

Wenn er so weitermacht, warnt ihn seine Freundin Liz (Hong Chau), wird er das Wochenende nicht mehr erleben. Charlie (Brendan Fraser) wiegt fast dreihundert Kilo, sein Herz kann diese Last nicht mehr bewältigen. Sein Blutdruck ist so hoch, dass er unverzüglich ins Krankenhaus gehört. Als Krankenschwester kann Liz das einschätzen. Aber sie weiß auch, dass Charlie sterben will.

Bis dahin will der Literaturdozent, der den Studenten bei ihren Zoom-Konferenzen bislang seinen Anblick ersparte, die offenen Rechnungen in seinem Leben begleichen. Vor neun Jahren verließ er seine Frau und seine Tochter, weil er sich in den Studenten Alan verliebte. Den Riss, der durch ihr Leben ging, haben sie ihm nie verziehen. Er selbst konnte es auch nicht.

Die Fressattacken sind eine Droge

Als Alan schließlich Selbstmord beging, sollten Charlies Fressattacken die Leere füllen, die er fortan verspürte. Er ist adipös aus Trauer. Die Fressattacken sind eine Droge, die den Schmerz lindern und immer neuen Schmerz gebären. Eine Art Buße, die Charlie sich auferlegt. Er will den Suizid des Geliebten wiederholen: ein Märtyrer in eigener Sache.

Regisseur Darren Aronofsky ("The Wrestler", "Black Swan") zögert, wie er sich dieser Figur annähern soll. Er tut es zunächst in einem mulmigen Rhythmus von Zeigen und Verbergen. Erscheint ihm Charlie wirklich monströs? Der Regisseur wollte das Bühnenstück von Samuel D. Hunter seit zehn Jahren verfilmen. In seinem Glauben an Metapher und Allegorie kommt es dem Regisseur entgegen. Er scheut das Pathos nicht.

Mit der Zeit wird sein Blick dann achtsamer. Die traurigen Augen von Brendan Fraser werden mit einem Mal so beredt wie seine warme, mittlerweile sonorere Stimme. Nach dem Auftakt, einer Landschafts-Totalen, verlässt "The Whale" Charlies Wohnung nur noch, um zurückzublenden zu einer Strandszene, die skizziert, was in seinem Leben verloren ging.

Der Film richtet sich an diesem Schauplatz mit einer erstaunlichen formalen Heiterkeit ein. Das klassische Normalformat sollte eigentlich Enge herstellen, aber das misslingt zum Glück. Charlie pariert seine Leibesfülle mit einer Reihe alltäglicher Hilfsmittel; er ist zu Selbstironie fähig. Der Einsiedler führt ein offenes Haus: Er bekommt viel Besuch.

Balance zwischen Verzweiflung und Treue

Liz (Hong Chau hält eine großartige Balance zwischen Verzweiflung und Treue) sucht ihn täglich vor Beginn ihrer Schicht auf. Missionar Thomas klingelt mehrfach und will Charlies Seele retten. Von Liz wird er rabiat in die Schranken gewiesen. Alan gehörte derselben Sekte an; sie macht diese für seinen Tod verantwortlich. Als Charlies zornige Tochter Ellie (Sadie Sink) auftaucht, erwacht "The Whale" endgültig zu filmischem Leben. Sadie Sink trägt die Energie der Angriffslust in den Erzählfluss hinein. Ihre Schroffheit ist einnehmend. Sie fordert väterliche Liebe und stößt sie brüsk zurück.

Was wäre, wenn sie der Wal ist? Der Essay, den sie in der Schule über "Moby Dick" schrieb, steckt voll trotziger Erkenntnis. Er ist der Strohhalm, an dem Charlie ihre Beziehung festhalten will. Später bringt Liz Charlies Exfrau Mary (Samantha Morton) mit, die seit der Trennung trunksüchtig ist. Ihre Verbitterung weicht einer sachten Zärtlichkeit, als sie sich an Charlie lehnt, um seinen Herzschlag abzuhören. Eine kurze Umarmung, eine erste Annäherung. Lässt sich irgendeines dieser Leben noch reparieren? "The Whale" erzählt von lauter Gestrandeten – an einen Ort gespült, an dem womöglich ein Rest von Hoffnung existiert.

In diesen Kinos läuft der Film.

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