Juni 1961

Revolution fürs Sexleben: Vor 60 Jahren begann der Siegeszug der Pille

4.6.2021, 10:28 Uhr
Revolution fürs Sexleben: Vor 60 Jahren begann der Siegeszug der Pille

© Foto: imago images/blickwinkel

"Die Pille hat die Menschheit im 20. Jahrhundert stärker geprägt als die Atombombe", lautet das Fazit von 200 Historikern. Zusammen mit der Aufklärungswelle, der Studentenrevolte und der Frauenbewegung löst das Kontrazeptivum in den 1960er Jahren eine sexuelle Revolution aus. Die angestaubten Moralvorstellungen der Nachkriegszeit werden ad acta gelegt.

Auch wenn 1968 Papst Paul VI. in seiner Enzyklika "Humanae vitae" die künstliche Empfängnisverhütung verbietet und als "Pillen-Paul" in die Historie eingeht, ist ihr Siegeszug nicht aufzuhalten. "Die Pille ist ein Meilenstein in der Geschichte der Emanzipation", sagt Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, "ich gehöre zu der Generation, die die ersten Jahre noch ohne Pille erlebt hat, voller Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft. Djerassi verdient ein Denkmal."


Drei in einem Bett: Offene Beziehungen sind Segen und Fluch


Carl Djerassi, ein 1938 aus Wien über Bulgarien nach Amerika emigrierter Chemiker, meldete 1951 eine vom weiblichen Geschlechtshormon Progesteron abgeleitete Substanz, das Norethisteron, zum Patent an. Dieser Arzneistoff war das erste oral aktive Gestagen (Substanzen, die die biologische Aktivität des Gelbkörperhormons zeigen) und wurde bei der Pharmafirma Syntex in Mexiko-Stadt synthetisiert.

Grundlagen für Djerassis Forschungen bildeten Versuche von Ludwig Haberlandt. Der Innsbrucker Physiologe hatte schon in den 1920er Jahren nach Eierstockverpflanzungen bei Mäusen und Ratten festgestellt, dass eine hormonell vorgetäuschte Trächtigkeit der Tiere eine Befruchtung verhinderte. In der Folge schlug er vor, dass Progesteron auch ein praktisches Verhütungsmittel für Frauen sein könnte. In den 1950er Jahren arbeiteten der Biologe Gregory Pincus und der Mediziner John Rock daran weiter.

Frauenrechtlerinnen finanzierten die Forschung

Finanziert wurden sie auch von zwei altgedienten US-Frauenrechtlerinnen: Die frühere Krankenschwester Margaret Sanger setzte sich lange und leidenschaftlich für eine Geburtenkontrolle ein, Millionenerbin Katharine McCormick stritt schon in ihrer Jugend für das Frauenwahlrecht. Sie überreichten den Wissenschaftlern 1953 einen Scheck mit dem Auftrag, ein orales Kontrazeptivum zu entwickeln. Letztendlich waren bis zur marktreifen Anti-Baby-Pille tausende Dollar aus dem McCormick-Vermögen nötig.

Den Großteil der Forschungskosten allerdings investierte die Pharmafirma G. D. Searle. Mit den Kenntnissen über Djerassis Patent brachte Searle 1957 Norethynodrel unter dem Handelsnamen Enovid 10 in die amerikanischen Drugstores. Bereits einige Monate zuvor hatte auch das Norethisteron unter dem Namen Norlutin den Weg in die Apotheken gefunden.

Erst für Menstruationsbeschwerden

Die Mittel dienten zunächst jedoch nur "zur Behandlung von Menstruationsbeschwerden", die empfängnisverhütende Wirkung wurde lediglich am Rande erwähnt. Erst seit August 1960 wurden Enovid-Tabletten in den USA als Anti-Baby-Pille verschrieben – und das auch nur an verheiratete Frauen. In Deutschland verkaufte ab 1961 die Schering AG das Präparat "Anovlar" ("kein Eisprung"), ein Derivat von Syntex’ Norlutin.

Neben der Ablehnung der Pille durch die katholische Kirche blieb das Medikament auch wegen seiner medizinischen Nebenwirkungen zunächst umstritten: Die Einnahme soll Übelkeit ausgelöst und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck bis hin zu einem erhöhten Schlaganfall- und Krebsrisiko gefördert haben, so Kritiker. Allerdings waren die ersten grünen Pillen vergleichsweise noch echte "Hormonbomben" mit 150 Milligramm Wirkstoff pro Tablette, erst 1988 verschwand Enovid vom US-Markt.

Moderne Anti-Baby-Pillen enthalten zwar weniger Östrogen (meistens Ethinylestradiol) und Gestagen (meist Drospirenon), dennoch stehen auch sie in der Kritik. Laut einem Bericht des ARD-Magazins "plusminus" vom vergangenen Oktober sollen die vom Bayer-Konzern vertriebenen Tabletten Yasminelle, Yasmin und Yaz für lebensgefährliche Nebenwirkungen wie Thrombosen, Lungenembolien und Schlaganfälle verantwortlich sein. Bayer hatte die Pillen in den USA als Lifestyle-Produkte für ein schöneres Leben vermarktet. Dabei war das erhöhte Thrombose-Risiko offenbar schon seit 2008 bekannt.

Erst 2014 brachte ein Beschluss der EU-Kommission Bayer und andere Hersteller dazu, in den Beipackzetteln konkret über das erhöhte Risiko zu informieren. Verschrieben werden die Präparate jedoch bis heute. "Die Hersteller relativieren das Risiko häufig", sagt der Gesundheitsökonom Professor Gerd Glaeske. Zahlreiche Anwenderinnen seien sich der Gefahren durch die Einnahme der oralen Kontrazeptiva gar nicht bewusst.

Aktuell gibt es außerdem Vermutungen, dass mit dem Coronavirus Infizierte allgemein einer größeren Gefahr der Blutgerinnsel-Bildung ausgesetzt sind und sich diese bei Frauen, die die Pille nehmen, noch erhöhen könnte.

Mit Einführung der Pille vor 60 Jahren bekam das Tabuthema Sexualität plötzlich eine ganz andere Bedeutung. In der Anfangszeit war sie noch ein Geheimtipp, danach explodierte die Nachfrage. Durch die fünf Millimeter großen Tabletten war Sex mit einem Mal von Fortpflanzung abgekoppelt, Frauen konnten über die Verhütung selbst bestimmen – ohne Wissen des Partners. Nach der Erfindung des Gummikondoms durch den Amerikaner Charles Nelson Goodyear im Jahr 1855 war dies ein weiterer großer Schritt für die Empfängnisverhütung.

Meistgenutztes Verhütungsmittel

Die Antibabypille ist heute immer noch das meistgenutzte Verhütungsmittel in Deutschland (47 Prozent). Während der Anteil der Anwenderinnen der Pille seit 2011 um sechs Prozentpunkte gesunken ist, stieg die Nutzung von Kondomen um neun Punkte auf 46 Prozent an.

Und die Filmtabletten sind weiterhin das effektivste Verhütungsmittel. Bei regelmäßiger, korrekter Einnahme treten statistisch gesehen bei 1000 Frauen nur zwei ungewollte Schwangerschaften auf. Zum Vergleich: Beim Kondom sind es immerhin 30, bei der Knaus-Ogino-Methode (Messung der Temperatur) 90 und beim Koitus Interruptus 200 bis 250. Die Tabletten für drei Monate kosten bis zu 45 Euro.


Besserer Sex mit Sexspielzeug? Eine Oberpfälzerin klärt auf


Eines hat die Pille aber nicht geschafft: Obwohl sie gerade in Ländern wie Brasilien oder Algerien häufig angewandt wird, konnte sie die Bevölkerungsexplosion nicht aufhalten. Seit 1960 ist die Weltbevölkerung von drei auf mittlerweile nahezu acht Milliarden Menschen angewachsen, doch ohne Pille wären wir wahrscheinlich noch eine Milliarde mehr. Trotzdem bekräftigt Papst Franziskus genau wie seine Vorgänger die Ablehnung jeglicher Form künstlicher Empfängnisverhütung.

Im Grunde fehlt jetzt nur noch die Pille für den Mann. "Eine wissenschaftliche Lösung für diese Pille gibt es bereits. Aber warum ist die pharmazeutische Industrie nicht daran interessiert? Weil es kein gutes Geschäft und schwierig ist, die Folgen einer Langzeiteinnahme abzuschätzen. "Die Frage, die jeder Mann stellen wird, ist, was für einen Effekt könnte die Substanz nach 30 oder 40 Jahren Konsum auf meine sexuelle Potenz haben?", glaubte Djerassi.

Dazu passt eine Anekdote aus den Anfangsjahren. In den Vereinigten Staaten wurde von einem sogenannten Pillenversager berichtet. Anstelle seiner Frau hatte ein Ehemann die Pille eingenommen. Er wollte auf Nummer Sicher gehen, die Kontrolle behalten und war felsenfest davon überzeugt, dass die Tabletten bei ihm genauso wirken würden wie bei ihr...

Verwandte Themen


Keine Kommentare