Big Brother im Staatstheater

20.9.2020, 19:03 Uhr
Container-Leben mit Corona-Maske: Süheyla Ünlü als Sabrina (vorne) mit ihren Mitbewohnern beim gemeinsamen Versuch, die Zeit totzuschlagen.

© Foto: Konrad Fersterer/Staatstheater Container-Leben mit Corona-Maske: Süheyla Ünlü als Sabrina (vorne) mit ihren Mitbewohnern beim gemeinsamen Versuch, die Zeit totzuschlagen.

Eigentlich hätte diese Premiere schon im Frühjahr gefeiert werden sollen. Doch das Coronavirus hatte dem Nürnberger Staatstheater auch bei der Uraufführung des Stücks "Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder" von Boris Nikitin einen Strich durch die Programmplanung gemacht. Der beherzte Versuch, das Projekt ersatzweise als Webserie online zu spielen, war wenig spannend und erhellend. Umso intensiver wurde einem nun bei der nachgeholten Erstaufführung im – gemäß der Hygieneregeln nur mit gut 50 Zuschauern gefüllten – Schauspielhaus vor Augen geführt, was man vermisst hatte: Theater live auf der Bühne, das in seiner Unmittelbarkeit ebenso wenig zu ersetzen ist wie als stimulierendes Gedankenfutter. Letzteres natürlich nur im besten Fall.

Und so ein Fall ist die geglückte Inszenierung, die der schweizerische Hausautor Nikitin gleich selbst übernommen hat. Dass er sich ausgerechnet von dem trashigen, vielfach kritisierten Reality-TV-Format "Big Brother" inspirieren ließ, das im Millennium-Jahr 2000 – also vor genau 20 Jahren – startete, mag verwundern. Doch wenn Theater irritieren und Denkmuster aufbrechen soll, dann wurde hier bereits bei der Themenwahl alles richtig gemacht.

Üppiges Preisgeld winkt

Auf der Bühne (von David Hohmann) steht ein Wohncontainer, der samt seiner Einrichtung dem TV-Original ziemlich ähnlich ist. Und auch die sechs übriggebliebenen Bewohner, die darin seit Wochen isoliert zusammen leben, tragen die Namen der Kandidaten aus der Serie. Der Rest der ursprünglichen Truppe ist via Nominierung und Zuschauervotum schon rausgeflogen. Wer’s bis zuletzt schafft, bekommt ein üppiges Preisgeld. . .

Beim Nichtstun, Reden, Streiten und Schlafen, in Küche, Wohnzimmer, Garten, Bad und WC werden die korrekte Andrea (Julia Bartolome), Quasselstrippe Sabrina (Süheyla Ünlü), der gern provozierende Jürgen (Tjark Bernau), der ruhige John (Yascha Finn Nolting), der coole Alex (Maximilian Pulst) und der sanfte Jona (Cem Lukas Yeginer) rund um die Uhr von der Kamera beobachtet und gnadenlos live auf der großen Leinwand gestreamt.

Hier stehen also Schauspieler auf der Bühne, die Laien spielen, welche wiederum Teil einer TV-Inszenierung sind, die aber von den Zuschauern als authentisch wahrgenommen werden soll. Allein die Durchdringung all dieser Ebenen macht Nikitins Stück – in dem man sich letztlich auch als Publikum in einer Rolle sehen könnte – zum Theaterstoff.

Lustvoll und lebensecht

Was das straff angelegte Stück neben subtilem Humor und dem erfrischend präsent, lustvoll und lebensecht agierenden Ensemble so attraktiv macht, ist seine Relevanz. Zwar sind die Masken, die alle Darsteller tragen, Teil der Inszenierung, doch zweifellos hat Corona Boris Nikitin in die Hände gespielt. Durch den Lockdown waren wir ganz real in einer ähnlichen, wenn auch nicht frei gewählten Isolation wie die Gruppe im Container. So lässt sich mehrdeutig spielen mit Begriffen wie drinnen und draußen. Und die Empathie des Publikums ist garantiert.

Dass man sich als Zuschauer bei dem kurzweiligen Stück, das natürlich auch Orwells "1984" zitiert, Fragen nach Voyeurismus, Überwachung und Selbstdarstellung stellt, ist ein Effekt. In menschliche Untiefen taucht der Regisseur zudem, wenn er den Bogen ins Heute schlägt und klar macht, dass der Weg von "Big Brother" zu social media und den Influencern unserer Tage gleichsam zwingend war. Julia Bartolomes Andrea zeigt das einmal, wenn sie aufgescheucht wie eine Youtube-Tussi per Video durch den Container führt.

Das düstere Fazit: Man muss nicht viel leisten, um erfolgreich zu sein, wichtig ist der, dem die Leute zuschauen und zuhören. Je mehr, desto besser. Andernfalls können "die Anderen" frei nach Sartre schnell zur Hölle werden. Und man fliegt raus.

Weitere Termine: 25., 26. September, 4. Oktober und im November.
www.staatstheater-nuernberg.de

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