Bodo Kirchhoff liest in Nürnberg

12.10.2016, 18:40 Uhr
Bodo Kirchhoff liest in Nürnberg

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Nach seinen großen Ehe-Romanen „Die Liebe in groben Zügen“ und „Verlangen und Melancholie“ verdichtet Kirchhoff (Jahrgang 1948) seinen Stoff diesmal zu einer klassischen Novelle. Ein Mann, eine Frau – und eine große Sehnsucht. Beide Protagonisten sind nicht mehr die Jüngsten und daher selbst am meisten überrascht, dass die Liebe sie noch einmal erwischt.

Julius Reither, ein ehemaliger Kleinverleger, hat sich in eine komfortable Residenz am Alpenrand zurückgezogen. Eines Abends klopft das Schicksal in Gestalt von Leonie Palm an seine Tür. Die alleinstehende Frau und Hobby-Autorin möchte ihn eigentlich nur für ihren Literaturkreis gewinnen. Aber dann kommt alles anders. Spontan entschließen sich die beiden zu einer Spritztour in den Süden. Über den Brenner geht es in Leonie Palms altem Cabrio immer weiter bis ans Meer, nach Süditalien und Sizilien. Auf diesem Road-Trip erzählen sie sich ihr Leben, rauchen miteinander um die Wette und müssen erfahren, dass Italien auch nicht mehr das ist, was es einmal war.

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive Reithers, ein vom Leben enttäuschter Pedant, der auf sprachliche Genauigkeit großen Wert legt. Meisterhaft beschreibt Kirchhoff, was seinem Protagonisten auf dieser Fahrt durch den Kopf geht: Erinnerungen, Reflexionen, Bilder, Sätze, Gerüche, Musikfetzen. Und er treibt ein raffiniertes Spiel mit dem Erzählen selbst. So schlägt er der drohenden Banalität gekonnt ein Schnippchen.

Reither und Leonie ahnen, dass sie gerade ihr letztes erotisches Abenteuer erleben. Beide sind in ihren Berufen gescheitert: Er als Verleger von Büchern, die keiner mehr lesen will. Sie als Hutmacherin, weil es keine Gesichter für Hüte mehr gibt. Versäumnise und Verluste haben beide auch im Privatleben hinter sich: Reither verlor vor Jahren seine große Liebe, weil er seine Partnerin zu einer Abtreibung nötigte. Leonie Palm leidet immer noch unter dem Selbstmord ihrer Tochter und dem Tod ihres Lebensgefährten.

Endlose Gespräche

Bei endlosen Gesprächen kommen sich die Reisegefährten näher, während am Fenster die Landschaft vorüberrauscht. Reither, der die Liebe gegen die Literatur eingetauscht hat, ist zunehmend fasziniert von der attraktiven Frau, die sich die Trauer um die verlorene Tochter vom Herzen geschrieben hat. Immer weiter geht die Fahrt mit unbekanntem Ziel, eine Reise zu sich selbst. Geschickt verbindet Kirchhoff diese zaghafte Liebesgeschichte mit der sozialen Wirklichkeit von heute. Buchstäblich im Vorbeifahren erleben die beiden die aktuelle Flüchtlingsproblematik. Doch immer deutlicher schieben sich die Gestrandeten und Verzweifelten aus fernen Ländern ins Bild.

In Sizilien, bei einem romantischen Abendessen, drängt sich unvermittelt ein bettelndes Mädchen in die Zweisamkeit, stumm und fordernd – und weckt Leonis Muttergefühle. Man nimmt sich der Kleinen an, die offenbar ganz auf sich gestellt ist, gibt ihr zu essen und kauft Kleidung. Und irgendwann überrascht Leonie ihren Begleiter mit der Schnapsidee, man könne das Mädchen doch mitnehmen. Quasi als Ersatztochter.

Wie die Geschichte ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Bodo Kirchhoffs Novelle kreist um die großen Themen, um Liebe, Glück, Verlust, Tod. Es geht um den Widerspruch von Literatur und Leben, um große und kleine Fluchten. Der Erzähler zeigt sich dabei auf der Höhe seines Könnens. Abgeklärt, melancholisch, um nicht zu sagen: resigniert.

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Eine Novelle. Frankfurter Verlagsanstalt, 224 Seiten, 21 Euro.

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