Das Paradies ist eine Hölle

2.11.2010, 06:33 Uhr
Das Paradies ist eine Hölle

© Marion Bührle

Der Augenzeugenbericht vom ersten Kreuzzug, den Georg Schmiedleitner seiner blutigen Kurzfassung des „Nathan“ vorangestellt hat, klingt fast wie das aktuelle Afghanistan-Tagebuch des unbekannten deutschen Soldaten. Sofort wird damit der Regie-Ansatz klar, der Lessings zeitloses Ideal an der Wirklichkeit misst.

Der große Aufklärer, der sich für Toleranz und gegen religiösen Fanatismus engagiert hat, ist unverändert aktuell: Erst vor kurzem hat Nicolas Stemann den „Nathan“ am Hamburger Thalia-Theater als sprödes Hör-Spiel inszeniert. Dagegen setzt Schmiedleitner, der Mann für schwierige Klassiker, auf starke Bilder, grelle Effekte und die neue Bühnentechnik, um das handlungsarme, aber diskussionswürdige Ideendrama zeitgemäß aufzubereiten. Das Ergebnis (Bühnenbild: Stefan Brandtmayr) ist nicht bis ins letzte Detail ganz schlüssig, aber auf jeden Fall ein ebenso packendes wie irritierendes Theaterereignis. Und wieder einmal kann man beim fliegenden Rollenwechsel über das großartige Nürnberger Schauspielensemble staunen.

Die Grundidee wirkt plausibel: Wer ist Nathan und wenn ja, wie viele? Wie moderne Schriftgelehrte versuchen die Protagonisten mit Lampen, aus dem Text schlau zu werden. Nathan ist zu weise, um wirklich zu sein, er verkörpert ein unrealisierbares Ideal. Daher tritt Nathan zwar in Gestalt von Frank Damerius auf, gleichzeitig wird er aber sechsfach vom Ensemble verkörpert. Die Stimme der Vernunft spricht folgerichtig im Chor. Zu loben ist auch die Sprachregie, die den fünffüßigen Jamben (mit Hilfe der Verstärkertechnik) Flügel verleiht.

Denn Schmiedleitner nimmt Lessings Text (jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt) sehr ernst. Ins Zentrum stellt er eine unmögliche Liebesgeschichte: Die unbedarfte Recha (Grit Paulussen) verliebt sich in ihren Retter, den engelsgleichen Tempelherren (Stefan Willi Wang). Als der ihre Gefühle erwidert, gehen die Probleme erst richtig los. Denn die beiden sind ja, ohne es zu wissen, Geschwister. Die Macht der Liebe verwandelt alles: In einer poetischen Szene legt der Tempelherr seine Rüstung ab und ein Federkleid an.

Derweil erzählt Nathan dem Sultan Saladin (Thomas Nunner) die berühmte Ringparabel. Leider nur ein schönes Märchen, wie sich schnell herausstellt: Der Patriarch entpuppt sich als Hassprediger – auch er wird von sechs Schauspielern dargestellt, die mit ihren Rauschebärten wie die Musiker von „ZZ Top“ ausschauen. Plötzlich kippt die Geschichte um in blanke Gewalt, wie in einem Tarantino-Film spritzt das Blut, dröhnt laute Rockmusik.

Das Happy End „mit allseitiger Umarmung“ wird als ironischer Filmnachspann zitiert. Alle Menschen werden Brüder? Das ist seit Lessings Zeiten ein frommer Wunsch. Schmiedleitner, der dem Frieden nicht traut, ist auf jeden Fall ein Kunststück gelungen: Ein Nathan für harte Zeiten, ein Klassiker, der Schüler zwei pausenlose Stunden garantiert nicht langweilt. 

"Waisen" als deutsche Erstaufführung

Das Paradies ist eine Hölle

© Marion Bührle

Die Debatten, in die sich das 2009 uraufgeführte, drastische Familienstück „Waisen“ des britischen Theaterautors Dennis Kelly einmischt, sind auch hierzulande längst im Gang. Thilo Sarrazin und vor ihrem Tod auch die Berlin-Neuköllner Jugendrichterin Kirsten Heisig lieferten die provokanten Stichworte zu den Themen Integration und Jugendgewalt. Insofern ist, was in dem zwiespältigen Psychotrip mit Schockwirkung verhandelt wird, ein derzeit sehr vertrauter Stoff. Doch Kelly arbeitet sich nicht am Allgemeinen ab, er zoomt quasi in Google-Earth-Manier ein — freilich zugespitztes, verdichtetes und mit allerlei Nebenproblematik befrachtetes — Exempel ganz nah ran und macht den Sachverhalt so empathiefähig und packend.

In der Inszenierung von Caro Thum blickt man in das neonhell erleuchtete und aufgeräumte traute Heim des jungen Paares Helen und Danny (Bühne: Beate Fassnacht). So richtig heimelig ist das Candlelight-Dinner nicht, das sich die beiden gerade gönnen. Und es wird jäh unterbrochen, als Helens Bruder Liam mit blutgetränktem Hemd in die Zweisamkeit platzt. Er stammelt etwas von einer Messerstecherei im Brennpunktviertel draußen vor der Tür, bei der ein junger Araber übel zugerichtet wurde. Als Helen und Danny Liam ins Kreuzverhör nehmen, stellt sich heraus, dass er auf monströse Art in den ungeheuren Fall verwickelt ist.

Bis das Stück an diesen Siedepunkt gelangt, wird die Spannungsschraube dramaturgisch gekonnt kontinuierlich angezogen. Dannys und Helens Familienidylle ist zu fragil, um dem Verbrechen Stand zu halten, auch in der Beziehung der Geschwister Liam und Helen, die als Waisen aufgewachsen sind, brechen alte Wunden auf.

Wie sehr diese Welt am Zerbröseln ist, spiegelt sich in den unendlich stockenden, hypothetischen und immer wieder versandenden Dialogen wider. Denn hier wird nicht nur Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und alltägliches Gewaltpotential verhandelt, es geht vor allem um die Haltbarkeit von Moral, die Verantwortung gegenüber dem Anderen und den Mut, sie wahrzunehmen.

Julia Bartolome überzeugt unter Caro Thums weitgehend auf die Textvorlage konzentrierter Regie als hilflos lavierende Helen, die ihre Familie retten will. Stefan Lorch überwindet als Danny die Fallhöhe vom integren Kerl zum Täter souverän. Nur Philipp Niedersen mag man die ungezügelte Brutalität Liams nicht ganz abnehmen. Aber vielleicht spricht gerade das für die Gefährlichkeit seiner Figur. Am Ende ist jeder der drei weit entfernt von der Unschuld des Kindes, das kurz auf der Bühne erscheint. Und so wie die Handlung mit Extremen jongliert, so knüppeldick kommt die Botschaft: Bedrohlich ist nicht das Fremde draußen, sondern die Monster in uns.

"Paradiesische Zustände"


Drei Stunden im Paradies können anstrengend sein. Aber auch unterhaltsam. Wer eine der begehrten Führungen durchs neue Schauspielhaus verpasst hat, dem sei das Uraufführungs-Paket „Paradiesische Zustände“ empfohlen, mit dem man auf alle Spielstätten und in die hintersten Winkel vordringt. Und im dunklen Bühnenschacht flucht dazu der Leibhaftige vor sich hin.

Überrascht wird man von seltenen Einblicken in das, was für die zehn Autoren mehr oder weniger mit der Vorstellung vom Paradies zu tun hat. Da gibt es die klassische Vorstellung vom Garten Eden, der für die drei Neuankömmlinge (offenbar gewaltsam zu Tode gekommen) allerdings so manchen Schrecken birgt. Mit den Erfahrungen aus der Erdenwelt im Hinterkopf mutieren harmlose goldene Äpfel zu potenziellen Handgranaten — alles eine Frage des Blickwinkels, meint wohl Autor Ulrich Hub. Sein Drama ist auf jeden Fall eines der witzigsten im Uraufführungs-Marathon.

Fitzgerald Kusz hat sich auf ganz irdische Probleme konzentriert: In einem Mann brennt bei Schnee und Eis die „Glout“ der Liebe, doch seine Sonja macht die Tür nicht auf. Drohungen, Winseln, Schreien – nichts hilft, wenn die Pforte zum Paradies verschlossen bleibt. Franzobel hat sich eines düsteren Themas ebenso mit Witz genähert, präsentiert wird sein Stück „Die Seemannsbraut“ wirkungsvoll im Lastenaufzug: Die Fischersfrau, die tropfnass im Netz hängt, kann zwar einen super Apfelstrudel backen, hat allerdings die Logik der EU-Einlasspolitik für Migranten nicht ganz durchschaut – Pech gehabt, zurück ins Meer.

Mal derb wie Mallorca (wie im Stück von Friederike Trudzinski), mal schön absurd im Augenblick von Evas Erkenntnis (bei Albert Ostermaier), mal düster-neuzeitlich (bei Lukas Hammerstein), mal verspielt (Sabine Harbeke) präsentiert sich im Schauspielhaus das Paradies auf Erden. Einen Besuch lohnt es. Einlass wird allerdings nur einmal im Monat gewährt.

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