Nürnberger Prozesse

Das Staatstheater spielt an historischem Ort: Spurensuche im Saal 600

14.9.2021, 17:16 Uhr
Ort des Erinnerns: Im historischen Schwurgerichtssaal 600 ist ab 25. September außergewöhnliches Dokumentar-Theater zu erleben.

© Christine Dierenbach/Stadt Nürnberg Ort des Erinnerns: Im historischen Schwurgerichtssaal 600 ist ab 25. September außergewöhnliches Dokumentar-Theater zu erleben.

Nicht von ungefähr fällt die Premiere auf Ende September 2021. Im November 2020 jährte sich der Beginn des Hauptkriegsverbrecherprozesses, der im Schwurgerichtssaal 600 stattfand, zum 75. Mal. Die Urteile gegen führende Nationalsozialisten wurden ein Jahr später, am 30. September und 1. Oktober 1946, verlesen. Die Täter mussten sich erstmals vor einem internationalen Gericht und vor der Weltöffentlichkeit für "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verantworten.

Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger, zwei der renommiertesten Köpfe des zeitgenössischen Dokumentartheaters, befassen sich direkt am Ort der Prozesse mit dieser Geburtsstunde des Völkerstrafrechts. Die beiden gelten als Altmeister des Dokumentar-Theaters in Deutschland, das Thema ist ihnen durch frühere Arbeiten nicht fremd.

Auf dem weiten Feld der Nürnberger Geschichte zieht der Saal 600 neben Dürer, Burg und Doku-Zentrum Touristen aus aller Welt an. "Wir sind mit 100000 bis 110000 Besuchern pro Jahr in nichtpandemischen Zeiten ziemlich attraktiv", erklärt Axel Fischer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Memorium Nürnberger Prozesse. 70 bis 80 Prozent des Publikums seien internationale Besucher.

Neues Publikum

Fischer kommt das Theaterprojekt zupass. "Dem Stück, das nun im Saal gespielt wird, verleiht der Ort sicher eine gewisse Attraktivität", meint der Kultur- und Medienwissenschaftler. Für die Museen der Stadt Nürnberg, zu denen das Memorium gehört, sei das ebenso schön wie für die Theaterleute, "weil auf diesem Weg ein ganz anderes, auch lokales Publikum zu uns findet". Und letztlich "wird es ja um Themen gehen, die auch unsere sind" – um den Hauptkriegsverbrecherprozess und die Nachfolgeprozesse.


Filme, die im Saal 600 gedreht wurden


"Ich halte die Auseinandersetzung mit dieser Zeit für außerordentlich wichtig", betont auch Schauspielchef Jan Philipp Gloger. "Es musste während meiner Direktion sein, dass wir uns mit der dunklen Vergangenheit, mitunter auch der Gegenwart Nürnbergs auseinandersetzen." Als Thema sei die Kontinuität von rechter Gewalt, Rassismus und völkischem Denken ohnehin im Spielplan implantiert. Zudem passe das Theaterprojekt bestens zum Konzept des Staatstheaters, "immer mehr in die Stadt reinzugehen", erklärt er seine Motivation.

Ein Theaterabend als dokumentarische "Spurensuche". Bedenken gegen die Idee gab es im Memorium anfangs gleichwohl: Ein "Reenactment" – also Schauspieler in Nazi-Verkleidung – wollte man auf keinen Fall sehen, sagt Fischer. Doch das hatten weder Jan Philipp Gloger noch die beiden Regisseure im Sinn. Die Dokumentation und die Schauspieler sollen immer als solche erkennbar sein.

Er habe "die armen Regisseure" für ihre Arbeit mit 30000 Seiten an Dokumenten versorgt, dazu kamen noch 35 Stunden Film und etliche Tonaufnahmen zum Prozess, verrät Fischer augenzwinkernd. Auch im Archiv der Nürnberger Nachrichten wurden Kroesinger und Dura bei ihren Recherchen fündig. "Für uns ist es spannend zu sehen, welche Schneise die beiden nun ins Material schlagen, welche Schwerpunkte sie setzen", betont Experte Fischer.

Eines kann man schon verraten: Dura und Kroesinger haben ihr Stück mit mehrsprachigen Mitgliedern aus dem Schauspiel-Ensemble besetzt, Französisch, Russisch und Englisch werden also auch zu hören sein. Diese Mehrsprachigkeit soll eine Annäherung an die Atmosphäre beim Prozess vor einem internationalen Gericht ermöglichen. Es gehe aber vor allem um die Erschließung und den subjektiven Blick auf das umfangreiche Material, erklärt Gloger. "Was bedeutet uns heute das Erinnern oder Internationales Völkerrecht?", lautet die Frage.

"Keine Nazis nachspielen"

Die Kriegsverbrecherprozesse sind nicht zum ersten Mal Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung. "Das Urteil von Nürnberg" nach einem Text von Abby Mann etwa kam als prominent besetzter Gerichtsfilm auf die Leinwand und als Theaterstück auch auf die Bühne. Unter anderem in Nürnberg. Das Duo Dura/Kroesinger setzt auf eine diametral entgegengesetzte Herangehensweise. "Wir werden keine Nazis nachspielen", betont Gloger einmal mehr.

Im Saal 600, der normalerweise 150 Menschen Platz bietet, wird für das Projekt eine kleine Tribüne eingebaut. Pandemiegerecht werden pro Vorstellung voraussichtlich rund 50 Zuschauer möglich sein. Nach der Premiere soll es allein im September weitere vier Aufführungen geben, das Stück läuft im Abo und im freien Verkauf – und bis mindestens Sommer 2022. Dazu kommt ein Rahmenprogramm in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Nürnberger Papiertheater.

Schon am 19. September, 17 Uhr, laden Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger zu einem Werkstattgespräch in den Saal. Der Eintritt ist frei. Die Anzahl der Teilnehmenden ist begrenzt, eine Anmeldung mit Angabe der Kontaktdaten ist deshalb erforderlich. Per E-Mail an memorium@stadt.nuernberg.de oder Telefon 0911 / 2 31 2 86 14.

Nicht nur für das Nürnberger Schauspiel, das sich in der kommenden Saison unter anderem auf die Schwerpunkte Rassismus und rechte Gewalt konzentriert, hat die Zeit des Hauptkriegsverbrecherprozesses besondere Bedeutung.

Auch bei den Nürnberger Nachrichten, die im Oktober 1945 als eine der ersten von den US-Besatzern lizensierten Zeitungen an den Start gingen, blickte man 2020 auf das 75. Jubiläum. Vor diesem Hintergrund sind die NN nicht nur Ideengeber für das Theaterprojekt, das am 25. September im Saal 600 Premiere feiert, die Zeitung wirkt zudem als Medienpartner.

Mehr Informationen über das Staatstheater finden Sie hier.

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