Der Mann, der die Welt verpackte: Verhüllungskünstler Christo ist tot

1.6.2020, 09:25 Uhr
Der Künstler Christo, der vor 25 Jahren auch das Reichstagsgebäude in Berlin verhüllte, starb am Sonntag im Alter von 84 Jahren.

© Raquel ManzanaresEPA, dpa Der Künstler Christo, der vor 25 Jahren auch das Reichstagsgebäude in Berlin verhüllte, starb am Sonntag im Alter von 84 Jahren.

Reden, reden, reden: Ebenso beharrlich wie freundlich erklärte er geduldig Freund und Feind notfalls auch Jahrzehnte lang seine Pläne. Wieder und wieder, bis sie endlich realisiert werden durften. Durchhaltevermögen und Dickköpfigkeit waren seine Stärke - neben dem Planen, dem Überzeugen und dem Zeichnen. Christo dachte groß. Aber das tun viele. Er jedoch realisierte seine Träume auch - gegen alle Widerstände. Einer seiner größten wurde vor 25 Jahren Wirklichkeit: Die Verhüllung des Reichstages in Berlin.

Fast ein Viertel Jahrhundert lang hatte der Künstler, der mit bürgerlichem Namen Christo Vladimiroff Vavacheff hieß, zusammen mit seiner kongenialen, 2009 an einer Hirnblutung verstorbenen Lebens- und Arbeitspartnerin Jeanne-Claude dafür gekämpft, diesen geschichts- und symbolträchtigen Berliner Bau für seine temporäre, nur 14 Tage währende Aktion "leihen" zu dürfen. Ein Spektakel, das die Massen begeisterte: Fünf Millionen Menschen ließen sich vom "Wrapped Reichstag" verzaubern, die Bezeichnung landete 1995 auf Platz fünf der Wörter des Jahres in Deutschland. Jeder kannte die Bilder und fast jeder auch diesen Begriff. Kurz vor dem Reichstags-Verhüllungs-Jubiläum am 24. Juni und seinem 85. Geburtstag am 13. Juni ist Christo jetzt in New York gestorben, wo er seit Jahrzehnten lebte.

Wäre Corona nicht gekommen, dann gäbe es noch dieses Jahr wieder ein spektakuläres Christo-Kunstwerk: Die Verhüllung des Triumphbogens in Paris, jener Stadt, wo sich Christo und seine ebenfalls am 13. Juni 1935 geborene Frau Jeanne-Claude 1958 kennengelernt hatten, und mit der Verhüllung der Brücke Pont Neuf bereits 1986 für Furore sorgten. Aber für Furore sorgen, das taten sie eigentlich überall, wo sie nach den jahrelangen Kämpfen um Genehmigungen von Stadt- und Landespolitikern, von Polizei- oder Umweltbehörden, nach dem Einholen von Brandschutzgenehmigungen oder Verkehrsgutachten, endlich loslegen konnten mit den eigentlich: Ihrer Kunst, ihrer optischen Überwältigung und ästhetischen Lustverschaffung für die Massen.

Ihre Kunst war immer nur temporär, schien wie ein kurzer Traum auf, um danach unwiederbringlich (und umweltfreundlich entsorgt) zu verschwinden. Sie verhüllten ganze Küsten und umspannten Inseln mit pinkfarbenen Folien, sie spannten einen 40 Kilometer langen "Running Fence", also einen Nylonzaun, durch Kalifornien und spannten eine Schirm-Armada in Japan auf. Immer nur für kurze Zeit: Das Glück, es ist flüchtig und Christo führte seinen Betrachtern genau das vor Augen, animierte sie, den Augenblick zu genießen und damit die Kunst, die keinem gehört, die für jeden ohne Kosten zu genießen war und nie einen intellektuell-überhöhten Anspruch vor sich hertrug.

"Ich will den Moment leben"

Stets hat sich Christo geweigert, einen tieferen Sinn in seine Werke zu deuteln. Schauen, staunen, das Bekannte durch die Veränderung neu sehen, war das Motto und Ziel. Und es funktionierte. Immer und überall, wo er und seine Frau tätig werden durften. Die Kurzlebigkeit gehörte zum Konzept und machte die Werke so kostbar: "Ich will den Moment leben", wurde Christo nicht müde zu betonen.

Was davon bleibt, sind Fotografien und Filme und natürlich die Zeichnungen und Collagen Christos, die die gesamten Arbeits- und Entwicklungsprozess festhalten. Und die, weil sie verkauft wurden und werden, entscheidend sind für einen Grundsatz, den Christo und Jeanne-Claude früh und unwiderruflich aufstellten: Alles, was sie taten, finanzierten sie selbst. Nie floss Steuerzahlergeld oder Sponsoring in ihre Kunstwerke, egal, ob sie nun in Japan oder Kalifornien, in Basel oder eben Berlin realisiert wurden. Das Ringen, das Drama um die Projekte, ihr ständiges Hin und Her gehörte genauso zu den Kunstwerken, wie die dauerhafte Dokumentation der flüchtigen Aktionen.

Geboren wurde Christo in Bulgarien. Im Januar 1957, mit nur 21 Jahren, floh er in den Westen und vor einer Welt der Indoktrination. "Eine Biografie, die Christos freiheitliches Denken und Handeln bis heute prägt", schreibt sein Freund Matthias Koddenberg im Katalog zur aktuellen Ausstellung im Berliner Palais Populaire.

Christo und seine Verbindung zu Franken

In Franken und Umgebung waren und sind Christo und Jeanne-Claude präsenter, als man glaubt. Vor zehn Jahren besuchte der Künstler seinen Freund, den Kunstsammler Reinhold Würth, in Schwäbisch Hall, der ihm in "seiner" Kunsthalle zum 75. Geburtstag eine große Ausstellung widmete. Christo schenkte den Besuchern dort einen ganzen Abend. Der Superstar aus New York gab sich sympathisch und nahbar, und erklärte mit einer Prise Humor, wie er es schafft, trotz der Rückschläge, die es bei der Genehmigung und Realisierung all seiner Projekte gibt, nicht zu verzweifeln und zu verzagen.

Nürnberg hütet seit 1997 zudem einen einzigartigen Schatz: Im Deutschen Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum wird auf 13 laufenden Regalmetern eine Dokumentation zum verhüllten Reichstag verwahrt, mit Protokollen und Korrespondenzen, Fotografien und Planungsunterlagen, ja selbst mit Stoffproben und handschriftlichen Notizen von Christo und Jeanne-Claude. "Diese Dokumentation ist singulär", sagt Archivleiterin Susanna Brogi und betont: "Das ist die Biografie eines Kunstwerkes und etwas ganz Besonderes. Die Dokumente vermitteln die nervenaufreibende Vorgeschichte dieses einmaligen Kunstprojekts."

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