Die verrückte Idee eines Gentlemans

29.7.2020, 13:58 Uhr
Eines der ersten Siretoms von 1975 steht im MedMuseum in Erlangen. Foto: Siemens Healthineers

Eines der ersten Siretoms von 1975 steht im MedMuseum in Erlangen. Foto: Siemens Healthineers

London, im Herbst 1971: Ein Radiologe und ein Ingenieur hüpfen vor Freude „auf und ab wie zwei Fußballspieler beim Siegtor“, wie sie später erzählen. Sie halten ein völlig neuartiges Röntgenbild in der Hand: eine sogenannte Tomographie, die ein Gehirn in bisher ungekannter Qualität abbildet. Der Radiologe, James Ambrose, sieht das Gehirn seiner 41-jährigen Patientin auf diesem Bild „viel detaillierter als wir erwartet hatten“. Er erkennt deutlich die Hirnrinde, die mit Hirnwasser gefüllten Hohlräume und sogar die weiße Substanz. Der Ingenieur Godfrey Hounsfield hat diese neuartige Röntgentechnik beinahe im Alleingang entwickelt. Mit dem Prototyp seiner „3D-Röntgenmaschine“ leitet Hounsfield die Entwicklung einer Technik ein, die heute zu den wichtigsten der medizinischen Bildgebung gehört: die Computertomographie (CT). Godfrey Hounsfields Prototyp basiert – mit den positiv gemeinten Worten eines Vorgesetzten – auf einer ziemlich „verrückten Idee“: Hounsfield möchte das Innere von Objekten in einzelnen Schichten abbilden, „so als würde man das Objekt in einer Aufschnittmaschine schneiden.“ Nach mehrmonatiger Überzeugungsarbeit erhält er von seinem Arbeitgeber, der Elektronikund Schallplattenfirma EMI, ein Budget für den Bau eines Prototyps. Das erste klinische Modell wird ab Oktober 1971 im Atkinson Morley´s Hospital von James Ambrose getestet. In seiner Abteilung fehlt ein Computer zur Bildberechnung – und zunächst ist auch nicht geplant, einen solchen in zukünftige CT-Scanner zu integrieren.

Sir Godfrey Hounsfield

Sir Godfrey Hounsfield

Die im Gehirn gemessenen Daten werden auf Magnetband gespeichert und mit dem Auto in ein etwa 20 Kilometer entferntes EMI-Labor gefahren. Hounsfield und Ambrose veröffentlichen die ersten Testergebnisse am 20. April 1972 und lösen die bis dahin größte Sensation in der medizinischen Röntgentechnik seit der Entdeckung der XStrahlen aus. Praktisch von einem Tag auf den anderen verändert die Computertomographie die weitere Entwicklung der medizinischen Röntgentechnik.

Die Geschichte der Computertomographie bei Siemens Healthineers beginnt mit einer Reise nach London. Der Besuch im Forschungslabor von EMI war sehr aufschlussreich, erinnert sich Friedrich Gudden, der damalige Leiter der Siemens-Röntgenentwicklung: „Ausgezeichnetes Essen und Godfrey Hounsfield, der Erfinder der Computertomographie, kam persönlich dazu. Er machte einen sehr guten Eindruck auf mich, ruhig und unprätentiös, ein echter British Gentleman. Und was er erzählte, war faszinierend, so zum Beispiel, dass am Anfang die Messwerterfassung für ein Bild neun Tage dauerte.“

Noch 1972 beginnt in der Grundlagenforschung bei Siemens in Erlangen die Entwicklung eines leistungsfähigen CT-Scanners, der auf die Arbeitsabläufe in Kliniken und Arztpraxen optimiert ist. Die „riesige Begeisterung“, mit der sich das Siemens-Team an die Arbeit macht, findet Friedrich Gudden noch rund 30 Jahre später „unvergesslich“. An jedem Tag wird bis tief in die Nacht gearbeitet. Häufig fährt Gudden die Mitarbeiter, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesenen sind, nach Mitternacht persönlich nach Hause. Als Siemens den Prototyp des „Siretom“ ab Mitte 1974 im Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main testet, „wurden Heerscharen von Besuchern nach Frankfurt gebracht, darunter auch Mitbewerber, die sowohl die Rechenzeit wie auch den Bedienkomfort und die Bildwiedergabe bewunderten“. Das Siretom sei zu diesem Zeitpunkt allen Geräten, die auf dem Markt waren, weit überlegen gewesen. „Wenn wir damals hätten liefern können, wären beliebig viele verkauft worden. Fragten die amerikanischen Ärzte nach der Lieferzeit und hörten unsere Antwort, so haben sie je nach Charakter geweint oder gelacht.“

Heutige Bilder werden mittels Cinematic Rendering aus CT-Daten erzeugt: Sie ermöglichen Medizinern genaue Diagnosen. Foto: Siemens Healthineers

Heutige Bilder werden mittels Cinematic Rendering aus CT-Daten erzeugt: Sie ermöglichen Medizinern genaue Diagnosen. Foto: Siemens Healthineers

Ein Jahr später, im November 1975, beginnt die Serienproduktion des Siretom – und in den folgenden 45 Jahren prägen die Ingenieure von Siemens Healthineers die Entwicklung der Computertomographie mit einer langen Reihe richtungsweisender Erfindungen. Moderne Computertomographen arbeiten noch immer nach dem von Godfrey Hounsfield erdachten Grundprinzip, also eine Röntgenröhre kreist um den Patienten und ein gegenüberliegender Detektor zeichnet die Strahlung auf – doch technisch gesehen liegen zwischen damals und heute Welten.

Die aktuellen Systeme von Siemens Healthineers unterstützen Ärzte unter anderem mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz bei der Diagnose von Krankheiten: Der AI-Rad Companion Chest CT kann auf CT-Aufnahmen des Brustkorbs verschiedene anatomische Strukturen an Gewebe, Muskeln und Knochen voneinander unterscheiden, hervorheben und krankhafte Veränderungen automatisch kennzeichnen und messen. Die großen Meilensteine – wie die Spiral-CT, die Dual Source CT und der AI-Rad Companion Chest CT – sind sicher nicht das Ende der Entwicklung auf dem Gebiet der medizinischen Bildgebung; denn, wie Godfrey Hounsfield einmal sagte: „Viele Entdeckungen liegen wahrscheinlich gleich hinter der nächsten Ecke und warten nur darauf, dass jemand sie zum Leben erweckt."

125 Jahre Entdeckung der Röntgenstrahlen!

Die verrückte Idee eines Gentlemans

Zum Röntgenjahr hat das Museum seine Webseiten aktualisiert und erzählt aus der Geschichte der Röntgentechnik bei SiemensHealthineers. Jeden Monat erscheint ein neuer Artikel, ein Quiz zur Geschichte der Röntgentechnik und weitere Informationen.
www.medmuseum.siemenshealthineers.com/de/ueberblick
Zum Röntgenjahr steht im MedMuseum jetzt ein neues Exponat. Der Nachbau einer Röntgenröhre aus dem Jahre 1896, der ersten in der Geschichte von SiemensHealthineers. Wie diese Röhre nachgebaut wurde, erzählt ein Video.

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