Familienausflug mit Schminke

30.6.2008, 00:00 Uhr
Familienausflug mit Schminke

© Fengler

Dennoch zwängt sich der fast 60-Jährige dieser Tage wieder in ein Reptilienpanzer-Kostüm samt schwerer Plateaustiefel, bemalt das Gesicht mit schwarz-weißer Farbe, lässt seine überdimensionale Zunge aus dem Mund baumeln und spuckt Feuer und (Kunst-)Blut. Manche Menschen mögen so etwas einfach nur peinlich finden. Diejenigen, die am Freitagabend zur Nürnberger Arena pilgern, fiebern dem Auftritt der amerikanischen Hardrock-Pioniere hingegen mit fast kindlicher Vorfreude entgegen.

Für viele Besucher um die 40 dürfte dieses Konzert eine Zeitreise in die eigene Jugend werden, und nicht wenige haben sogar den stilecht geschminkten Nachwuchs mitgebracht. Die Band, die vor über 30 Jahren besorgten Eltern als Inkarnation des verderbten Rock’n’Roll-Virus galt und deren Mitglieder auch schon mal als Satansjünger oder Neonazis diskreditiert wurden, liefert heute familienkompatibles Entertainment. Kiss, das sind längst fleischgewordene Comic-Figuren, eher putzig denn bedrohlich.

Show mit hohem Nostalgie-Faktor

Als pünktlich um 21 Uhr die obligatorische Stimme aus dem Off «the hottest band in the world» ankündigt, der schwarze Vorhang mit einem ohrenbetäubendem Knall fällt und die vier maskierten Musiker zum signifikanten Gitarrenriff von «Deuce» auf einer Plattform von der Hallendecke herabschweben, ist das einmal mehr der Startschuss für eine über zwei Stunden dauernde, spektakuläre Show mit hohem Nostalgie-Faktor.

Immerhin zelebriert man das 35-jährige Jubiläum von «Alive», einem der legendärsten Live-Alben der Rockgeschichte. Dass die beiden Gründungsmitglieder Ace Frehley und Peter Criss nach ihrem Kurz-Comeback zur Reunion-Tour längst wieder hinauskomplimentiert wurden und mit Tommy Thayer und Eric Singer zwei Mietmusiker in ihre Masken geschlüpft sind, mögen Traditionalisten als frechen Etikettenschwindel empfinden. Rein musikalisch sind die beiden im Vergleich zu ihren alkohol- und drogengebeutelten Vorgängern aber definitiv eine Bereicherung. Der Kiss-Sound profitiert spürbar von Singers dynamischem Schlagzeugspiel und Thayers flinker Saitenakrobatik.

Unumstrittene Chefs im Ring sind aber nach wie vor die Herren Simmons & Stanley. Auch mit Ende fünfzig ist den beiden Bühnenprofis keinerlei Altersschwäche anzumerken. Vor allem der durchtrainiert wirkende Paul Stanley gibt mit neuem Hüftgelenk und nacktem Oberkörper immer noch eine gute Figur ab. Kein Wunder, dass die Dame in der ersten Reihe, die locker des Sängers Tochter sein könnte, seinen Flirt erwidert und bereitwillig ihr T-Shirt lupft.

Kollege Simmons spult derweil routiniert sein übliches Horror-Repertoire herunter, fliegt zur Headbanger-Hymne «I Love It Loud» gen Hallendecke, besabbert sich mit Kunstblut und spielt bei «Hotter Than Hell» mit dem Feuer. Auch sonst müssen die Nürnberger trotz der vergleichsweise kleinen Arena auf keine Showeinlage verzichten. Thayer feuert aus seiner Gitarre Raketen ab, Stanley schwebt über die Köpfe des Publikums hinweg zu einer Bühneninsel mitten im Saal, wo er «Love Gun» zelebriert. Beim Klassiker «Rock And Roll All Nite» ertrinkt die Arena in einem Konfettiregen - Hardrock meets Disneyland.

Natürlich ist ein Kiss-Konzert ein extrem vorhersehbares Spektakel. Jede Pose, jeder Schritt scheint genau geplant, für Spontaneität oder gar Emotionen ist hier kein Platz. Kiss sind das musikalische Pendant zu Popcorn-Kino à la Spielberg, ein großer Spaß, perfekte Unterhaltung auf hohem Niveau. Und vielleicht auch für die Protagonisten selbst eben doch spannender als das spießige Leben in einer Luxusvilla. Uli Digmayer

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