Frank Günther zum Shakespeare-Film "Anonymus"

9.11.2011, 21:04 Uhr
Frank Günther zum Shakespeare-Film

© Sony Pictures/dapd

NZ: Sie haben fast alle Werke Shakespeares allein ins Deutsche übersetzt. Kaum ein anderer dürfte hierzulande mit der Sprache dieses Dichters so vertraut sein wie Sie, zumal Sie als ehemaliger Regisseur auch über reichlich Theatererfahrung verfügen. Hat für Sie bei der Übersetzungsarbeit die Frage der Urheberschaft je eine Rolle gespielt?

Frank Günther: Nein, nie, keine Sekunde  – warum auch? Wer immer diese Texte geschrieben hat, ob Shakespeare oder Oxford oder Bacon oder Marlowe oder der Kaiser von China – das ändert an diesen Texten kein einziges klitzekleines Komma. Ob das ein Graf war, der das geschrieben hat, oder ein Foto-Graf – das spielt für die Übersetzung dieser Sprache nicht die geringste Rolle.

Schließlich handelt sich’s dabei nicht um parteipolitische Pamphlete oder ideologische AgitProp-Texte, nicht um Selbstfeiern einer Aristokratie oder um  Revolutionsaufrufe von Unterdrückten und Entrechteten, sondern um vielschichtige, in Widersprüchen erzählte Weltschilderungen. Diese Werke sind ja nicht in einem einzigen Ton geschrieben, sondern sind ein Konzert von Stimmen, dem vielfältigen Weltkonzert der Stimmen abgelauscht. Der Text zählt, nicht der Verfasser.

NZ: Regisseur Roland Emmerich vertritt in seinem Kostümdrama die These, Shakespeare sei nicht der Autor der ihm zugeschriebenen Werke wie „Hamlet“ oder „Othello“, sondern nur der „Strohmann“ für einen Adeligen: Ein alter Hut oder eine nach wie vor wichtige Frage für die Literatur- und Geschichtswissenschaft?

Günther: Ein sehr altes, ziemlich fadenfransiges Hütchen – und es war niemals eine wichtige Frage der Literatur- und Geschichtswissenschaft. Es war immer nur eine Frage für spökenkiekerische literarische Hobby-Detektive. Die Verfasserschaftsfrage ist ein  künstliches Pseudoproblem, das um 1850 nicht entdeckt, sondern erfunden wurde. 250 Jahre lang, seit Shakespeares Lebzeiten, hatte kein Mensch jemals an seiner Autorschaft dieser Dramen und Gedichte gezweifelt, dafür gibt es keine einzige historische Quelle.

Um 1850 erfand man dann einen ersten anderen Autor, Francis Bacon  – und schuld daran sind im Grunde die hyperventilierenden Shakespeare-Vergötterer. Ende des 18. Jahrhunderts hatten sie Shakespeare – einfach ein besonders guter Dramatiker unter vielen sehr guten Dramatikern der elizabethanischen Epoche –  zu  einer übermenschlichen, romantischen Geniegestalt aufgeblasen, vor der gekniet und gebetet wurde. Weihrauch schwadenweise.

NZ: So wurde der von der Nachwelt erfundene Shakespeare echter als der Dichter, der wirklich existierte...

Günther: Welcher historische, reale Mensch aus Fleisch und Blut konnte gegen sowas bestehen? Sohn eines Handschuhmachers aus dem Kaff Stratford, keine Universitätsbildung, geht nach London, wird Schauspieler, schreibt übermenschliche Dichtwerke, wird reich, geht nach Stratford zurück, schreibt keine Zeile mehr, investiert geschickt in Grundstücksgeschäfte, und stirbt. Ende. Läppisch-langweilige Biographie: Und das soll das Leben eines einzigartigen Genies sein?

Unmöglich, da muß was anderes her, ein bedeutenderer Mensch. Aber wer, welcher war’s dann? Und genau so und nicht anders entstand das künstliche “Verfasserschaftsrätsel“. Mit bisher über 70 Kandidaten. Vor etwa sechs Jahren neu im Rennen die Countess of Pembroke, vor drei Jahren Sir Henry Neville. Und gerade dieser Tage wurde in einem neuen 700-Seiten-Wälzer „unwiderleglich bewiesen“, daß der Autor in Wahrheit Christopher Marlowe gewesen war...  Tja. Mal sehn, wann der nächste Emmerich-Film kommt: Shakespeare war Marlowe.

NZ: Laut Emmerich stammen die berühmten Werke von Edward de Vere, dem 17. Earl von Oxford.

Frank Günther zum Shakespeare-Film

© pr

Günther: Eine Erfindung aus dem Jahr 1920. Bis zu diesem Tag hatte 350 Jahre lang kein Mensch mit irgendeinem einzigen Wort den Earl of Oxford mit Shakespeares Werken in Zusammenhang gebracht, dafür gibt es kein einziges historisches Dokument.

Der phantasiereiche Erfinder, Mr. Looney – ein Sektenprediger, dem die Schäflein davongelaufen waren, ein Bewunderer mittelalterlicher Feudalverhältnisse mit stark antidemokratischen Neigungen – hatte den künstlich aufgestylten Halbgott Shakespeare ebenfalls nicht mit dem historischen Handschuhmacherssohn in Einklang bringen können; drum hatte er sich einen neuen Verfasser ausgedacht: Der mußte bestimmte Eigenschaften haben – hohe Bildung, Italienreisen, Fremdsprachenkenntnisse, Kenntnisse des höfisches Lebens etc. ...

NZ: Wie verfiel der Sektenprediger denn auf den Earl von Oxford?

Günther: Mr. Looney hat dann in der elisabethanischen Adelswelt gesucht und wurde dort fündig: Sein willkürlich ausgedachter Eigenschaftenkatalog passte irgendwie auf den Earl – also war der’s von da an. Und noch mehr: König Lear hat drei Töchter – Oxford hatte drei Töchter... – also bitte! Hamlet wurde von Piraten überfallen – Oxford wurde mal von Piraten überfallen... – na? Dämmert’s?

Klarer Hinweis auf seine Verfasserschaft, nichts könnte klarer sein, meinte Looney. Er hat Shakespeares Gesamtwerk als verschlüsselte Autobiographie des Earl of Oxford gelesen –  ein ziemlich irres Verfahren. Jetzt musste man nur noch die Werke entschlüsseln wie im Da-Vinci-Code von Dan Brown. Damit beschäftigen sich die Oxfordianer seit 1920. Leider erfolglos. Kein Beweis taucht auf. Macht aber nix, man kann fröhlich weiterspekulieren.

NZ: Emmerich will die Shakespeare-Welt bewusst provozieren. Werden sich seriöse Kenner und Anhänger von einem schwäbischen Hollywood-Regisseur und Urheber reißerischer Katastrophen-Filme wie „Independence Day“ beunruhigen lassen? Immerhin dürften wohl einige Millionen Zuschauer weltweit „Anonymus“ sehen.

Günther: Na ja – der Roland Emmerich arbeitet halt gern mit starken Effekten. Da sagt er doch allen Ernstes Sachen wie:  „Ich habe Shakespeares Autorenschaft angezweifelt, jetzt bin ich der Ketzer und die anderen schreien: ,Verbrennt ihn!’“ Gute PR-Arbeit für die Film-Promotion: Von grimmigen Literaturwissenschaftlern verfolgter Katastrophenfilm-Regisseur wird mit Brandfackeln abgehalten, die Wahrheit zu Shakespeare in die Welt zu schreien – aber ein bissel dick aufgetragen ist das schon.

Die These hat schließlich einen sehr langen Bart und taucht alle zwei Jahre zyklisch in den Gazetten auf wie das Ungeheuer von Loch Ness. Diesmal soll sie eben mit 40 Millionen Hollywood-Dollar unters sensationslüsterne Volk gebracht werden; aber das macht sie nicht richtiger. Die Literaturwissenschaft ist weniger beunruhigt als genervt von dem absurden Obskurantismus, mit dem hier die Öffentlichkeit brachial attackiert wird und zu dem sie sich, bei hoher Zeitverschwendung, gezwungenermaßen jetzt verhalten muss. Man will ja schließlich auch nicht, daß die Kreationisten die Deutungshoheit über die Weltgeschichte erhalten.

NZ: In diesem Film wird Shakespeare als trotteliger Schmierenkomödiant dargestellt. Eine Zumutung oder gar eine Riesensauerei?

Günther: Nö, das ist völlig legitim, das fällt unter künstlerische Gestaltungsfreiheit. Die berühmte jungfräuliche Königin Elisabeth, die mit ihrer politischen Klugheit England eine ganze Epoche lang vor Unheil bewahrt hat, wird ja auch als nymphomane Edelhure dargestellt, die im Tran mit einem ihrer vielen illegitimen Söhne einen weiteren Sohn zeugt – warum nicht. Man könnte sie auch schwarze Messen feiern lassen, das geht alles und kann durchaus Unterhaltungswert haben. Wer’s mag. Die Kunst darf und soll Gegenbilder zur Wirklichkeit entwerfen wie sie will.

NZ: Aber die Kunstfreiheit hat auch ihre Grenzen.

Günther: Shakespeare ist in seinen Werken auch nicht zimperlich mit der historischen Wahrheit umgesprungen, er hat ähnliche Methoden verwendet, wenn er Jeanne d’Arc, die heilige Heldin der französischen Geschichte, die ihr Volk gegen England mobilisiert hat, als Hexe und Zauberin darstellt. Nur etwas blöd wird’s, wenn solcherlei Fantasy dramatisch als „historische Wahrheit“ behauptet wird wider „die Lügen der Literaturwissenschaft“, wie das die PR zu Emmerichs Fantasy-Film tut. Dann verkommt legitimer Kunst- oder Unterhaltungsanspruch zur versuchten Manipulation.

NZ: Wie sieht Ihr ganz persönliches Shakespeare-Bild aus? Was für ein Mann, aus welcher Schicht, von welcher Bildung, welcher politisch-gesellschaftlichen Einstellung war er?

Günther: Das ist ja das Besondere an diesem Autor Shakespeare – er verschwindet als private Person hinter seinen Schöpfungen. Wer z.B. Brecht liest, entwickelt eine Vorstellung von diesem Autor: Brecht ist immer kommentierend präsent in seinen Werken. Shakespeare nie. Er hat die Fähigkeit der unendlichen Empathie: Er kann sich wie Proteus in jede seiner Gestalten verwandeln – und genauso in deren jeweilige Gegenspieler. Er geht in seinen Gestalten auf. Das ist keine Fähigkeit, die von Klasse, Bildung und Status abhängig ist; es ist eine urmenschliche Fähigkeit, die Shakespeare in besonderem Maß entwickelt hat. Es ist die Fähigkeit eines vollendeten Schauspielers, zum gestalterischen Prinzip erhoben.

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