Hinter den Fassaden amerikanischer Westküstenidylle

3.2.2015, 19:25 Uhr
Hinter den Fassaden amerikanischer Westküstenidylle

Die amerikanische Gesellschaft, insbesondere die Kaliforniens, wo er selbst lebt, nimmt T. C. Boyle immer wieder gern ins Visier. Vor allem in Deutschland hat er sich damit (und mit der nicht zu unterschätzenden Hilfe seines Stammübersetzers Dirk van Gunsteren) eine treue Lesergemeinde erschlossen, die seine nahezu im jährlichen Rhythmus erscheinenden Bücher oder Erzählungen gespannt erwartet. Doch auch weltweit gehört der inzwischen 66-Jährige zu den meistgelesenen Schriftstellern. Zwei Aspekte tauchen in seinen Romanen mit schöner Zuverlässigkeit immer wieder auf: Der Mensch in seinen gesellschaftlich-existenziellen Verhältnissen und seine Beziehung zur Natur, die ihn umgibt. Davon erzählt Boyle auf der Grundlage genauer Recherchen.

Hinter den Fassaden

Auch in „Hart auf Hart“, der noch vor der englischen Ausgabe auf Deutsch erscheint, fehlt der ökologische Aufhänger nicht. Doch im Wesentlichen richtet Boyle den Blick diesmal auf die Schattenseiten des großen Traums von Freiheit und auf die Neurosen und Psychosen der amerikanischen Seele, die hinter den Fassaden einer fremdenfeindlichen Westküstenidylle stecken. „Die amerikanische Seele ist ihrem Wesen nach hart, einzelgängerisch, stoisch und ein Mörder. Sie ist noch nicht geschmolzen.“ Dieses Zitat von D. H. Lawrence hat Boyle leitmotivisch vor seinen Roman gestellt.

Für den hat er eine furiose Ouvertüre gefunden. Sten Stensen, 70, Vietnamveteran und pensionierter Schuldirektor, gönnt sich mit seiner Frau Carolee eine Kreuzfahrt nach Lateinamerika. Die gerät zum Albtraum. Bei einem Landausflug in Costa Rica wird die Reisetruppe von einer Diebesbande gestellt. Im Affekt bringt Sten einen dieser „Ticos“ mit bloßen Händen um. Der amerikanische Tourist bleibt unbehelligt, er wird sogar als Held gefeiert, „denn seine Geschichte sprach irgendwelche tief in der amerikanischen Seele verborgenen atavistischen Impulse an . . .“ Eine Episode, die so spannend wie aufwühlend zynisch ist.

Dabei lässt Boyle den Horror erst beginnen. Mit wechselnden Perspektiven entwirft er ein Parallelwelt-Szenario, das zeigt, wie schnell Menschen, die ihre individuelle Freiheit bedroht sehen, zu Gewalttätern mutieren können. Auch zu Hause in Mendocino plagt Sten und seine Mitbürger die Angst vor Fremden — in Gestalt von Mexikanern, die in den nahen Redwood-Wäldern Schlafmohnplantagen anlegen und so das Ökosystem zerstören. So mancher würde das Problem am liebsten per Bürgerwehr aus der Welt schaffen. Stens größere Sorge gilt aber seinem spätgeborenen und längst verlorenen Sohn Adam, ein Waffen tragender, paranoider Psychopath und weltfremder Waldläufer unter Hochdruck und Drogen, der sich im Leben verrannt hat und ebenfalls Mohnpflanzen in den Wäldern hegt.

Dieses wandelnde Pulverfass fühlt sich als Wiedergänger der historischen Helden-Figur John Colter, einem Trapper des frühen 19. Jahrhunderts. Adam glaubt sich von Aliens verfolgt und pflegt ein Sex-betontes Verhältnis zu der 40-jährigen Sara. Auch sie verteidigt mit neurotischem Eifer ihre Freiheit in einer verhassten, reglementierten Welt. Doch anders als Adam versucht sie es innerhalb der Grenzen der Gesellschaft. Nur scheinbar also kämpfen die beiden gemeinsam gegen eine Front von Ordnungshütern, Gesetzestreuen und anderen Spießern. Bis Adam durchdreht, zum Mörder wird und der Krieg beginnt. Denn anders als sein Vater wird der Outlaw nicht als Held verehrt. . .

Geradeaus erzählt

Wie so oft gelingt es T. C. Boyle auch mit dieser Geschichte, den Leser in den Bann zu ziehen. Seine süffige Art, ohne literarische Stolpersteine geradeaus zu erzählen, macht das Lesen ebenso zur leichten Übung wie die plastische Zeichnung von Szenerie und Hauptfiguren. Als Sympathieträger taugen sie alle drei nicht, doch zumindest was Adam und Sara angeht, erlaubt der Autor kein schnelles Pauschal-Urteil. Auch wenn er die Geschichten seiner Protagonisten mit sarkastisch-bösem Witz erzählt — zum Lachen sind sie nicht.

T. C. Boyle: Hart auf Hart. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München, 395 Seiten, 22,90 Euro.

Verwandte Themen


Keine Kommentare