Neue Cecilia-Bartoli-CD: Glanz und Leiden der Kastraten

14.10.2009, 00:00 Uhr
Neue Cecilia-Bartoli-CD: Glanz und Leiden der Kastraten

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Welche Torturen, welche Ängste hinter den menschlichen Schicksalen standen, mag man kaum erahnen, wenn man die soeben erschienene CD «Sacrificium« von Cecilia Bartoli hört. Es ist ein großes Verdienst der 43-jährigen aus Rom stammenden Mezzosopranistin, bei ihrem jüngsten Projekt nicht einfach nur die qualitativ durchweg hervorragenden und über 200 Jahre in den Archiven schlummernden Kastraten-Arien der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sondern auch die sozialen Umstände und Ursachen dieser schmerzhaften Wunde der Musikgeschichte zu thematisieren – ein aufwändiges Beiheft zur CD samt einem «Kastrations-Lexikon« bringt hier Licht ins Dunkel der Qualen.

Neapel war Zentrum einer Entmannungs-Industrie

Denn wir kennen heute zwar die berühmten Kastraten-Namen wie Caffarelli, Salimbeni, Appiani, Porporino und natürlich Farinelli – doch dahinter stehen Tausende, die körperlich verstümmelt wurden, ohne sich je im Glanze des künstlerischen Erfolgs sonnen zu können. Im 18. Jahrhundert gab es eine regelrechte Kastrationsindustrie, ihr unangefochtenes Zentrum war Neapel. In Italien war die Nachfrage nach den Sängern mit der hohen Stimme besonders groß, im Kirchenstaat in Rom wurden über 300 Jahre die Sopran- und Altstimmen in Kirchen von Kastraten gesungen, zusätzlich verbannte das Edikt von Papst Clemens IX. die Frauen auch noch aus den weltlichen Theatern: «Keine Weibsperson bei hoher Strafe darf Musik aus Vorsatz lernen, um sich als Sängerin gebrauchen zu lassen.«

Zudem gab es ökonomische Gründe für die Kastration: Die entmannten Knaben konnten sofort mit der Stimmbildung beginnen, während bei jungen Frauen das Ende der Pubertät abgewartet werden musste. Ein Kastrat stand damit früher und in etwa zehn Jahre länger auf der Bühne als eine Sängerin; die Geschäftemacher, Impresari und ehrgeizigen Lehrer konnten damit mehr an ihm verdienen. Ganz zu schweigen davon, dass ein Kind sich leichter formen lässt.

Neapel hatte zudem ein bitterarmes Hinterland; für viele der dort lebenden Familien war die Stadt mit ihren vier Konservatorien und dem Teatro San Carlo als eines der musikalischen Zentren Europas eine wahre «Traumfabrik« mit dem Versprechen auf Reichtum und Ruhm. Waren die Knaben erst einmal von den Musikschulen aufgenommen worden, so wurden ihre stimmlichen Fähigkeiten und ihre Musikalität überprüft. Wurden sie für talentiert genug befunden, führte kein Weg mehr an der – meist geheim gehaltenen – Kastrationsstätte vorbei.

Damit begann der Konkurrenzkampf erst: Eine Karriere in Kirche, Staat oder Armee war nach der Entmannung wegen entsprechender Diskriminierung verbaut; eine Ehe und Familiengründung waren aus körperlichen Gründen nicht mehr möglich. Wie sagte es der Kastrat Filippo Balatri: «Jenes süße Wort, das ich sonst eines Tages vielleicht hätte hören dürfen, würde ich nun sicher nie hören: Herr Papa.«

Umso entschlossener konzentrierten sich die Kastraten auf ihre einzige Chance, die Gesangskarriere. Die besten von ihnen eroberten über die italienischen Grenzen hinaus die großen Opernbühnen Europas, auf denen es einen regelrechten Kult um die androgynen Wesen gab und sie wie Popstars hofiert wurden.

Dieser Erfolg hatte auch sehr solide musikalische Gründe. Komponisten wie Leonardo Leo, Leonardo Vinci und vor allem Nicola Porpora schufen in Neapel eigens für die Kastraten Opern, deren Arien zum Anspruchsvollsten gehören, was je für die menschliche Stimme geschrieben wurde. Dank Bartoli können wir diese gefühlvoll-intensiven Zornes- und Freudenarien, den Gesang der Verzweiflung wie der innigsten Hoffnung nun wiederentdecken.

Die Sängerin verblüfft dabei mit der schier unglaublichen Beweglichkeit ihrer Stimme, die auch noch die schnellsten Stakkati wie mühelos bewältigt. Auch aberwitzige Verzierungen sind für sie kein Problem, und ihr Atem bei den langen Phrasierungsbögen in den langsamen Arien scheint unerschöpflich. Zusammen mit dem herrlich farbig, vital und druckvoll musizierenden Ensemble Il Giardino Armonico unter Giovanni Antonini erweist die Bartoli dieser wiederentdeckten Musik den höchsten Dienst: Sie demonstriert eindrucksvoll, dass es sich hier um hohe Opernkunst handelt und dass gerade der Rang eines Komponisten wie Porpora, der zu Lebzeiten auf Augenhöhe mit Händel und Haydn agierte, neu bewertet werden muss.

Cecilia Bartoli: Sacrificium, Decca.
Am Mittwoch, 10. März 2010, 20 Uhr, kommen Bartoli und das Kammerorchester Basel mit «Sacrificium« in die Meistersingerhalle.

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