Peter Handkes "Der große Fall"

31.3.2011, 00:00 Uhr
Peter Handkes

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„Jener Tag, der mit dem großen Fall endete, begann mit einem Morgengewitter.“ Der Schauspieler, von dem Peter Handkes neue Erzählung handelt und der doch vor allem darin nur eines spielt: den Autor – dieser Held ohne Hauptdarsteller-Allüren erwacht mit geschlossenen Augen und wartet erst einmal ab, „wie das Geschehen nun weiterginge.“ Tatsächlich wird er sich in der folgenden Zeit, die nur einen einzigen Tag dauert, ganz dem Zufall überlassen. Er wird einem Zickzack-Weg von der Innen- in die Außenwelt folgen, querwald-, feld- und stadtein, er wird von der Vereinsamung mitten hinein in die Zivilisation gelangen, von den Rand- über die Zwischenbezirke ins Zentrum einer Gegenwart, die ihm fremd und feindlich bleibt. Staunend wird er sich in der Endzeit finden, an die sich die Menschen längst gewöhnt hatten: „Sie würde nie enden.“

Nachdem schon in allen Büchern Handkes zuvor stets auch von den Befindlichkeiten, Abgrenzungen und Fluchten des Schriftstellers selbst die Rede, das Verschweigen und Andeuten war, ist das natürlich im „Großen Fall“ nicht anders. Die Weltabgewandtheit und Verkapselung, die Gesellschaftsmüdigkeit und Menschenfeindlichkeit, die dem realen Schreiber eigen sind, spiegeln sich im erfundenen Schauspieler. Und so liest sich dieser Text wie das Minuten- und Stundenbuch eines selbst ins Auge und in Gedanken gefassten Aufbruchs: hinaus aus der „Menschenleere“, aus der freimütig gewählten und nicht selten verbissen verteidigten Enklave und hinein in ein ungewisses, ein bevölkertes, längst freilich auch irrtum-vermintes Terrain: „Verflucht! Da kamen sie schon, einer, dann noch einer, dann gleich mehrere auf einmal, dann ein ganzer Schock der Leibhaftigen.“

Der Schauspieler, dem am Abend in der „Megapole“, die unschwer als Paris zu erkennen ist, ein großer Preis verliehen werden soll, und der am folgenden Tag in einem Film ausgerechnet einen Amokläufer spielen muss, ergeht sich diese fremde alte Welt wie ein Abenteurer auf Expedition ins Unbegreifbare. Dabei ist nichts, was Handke da sehen und erleben lässt, exotisch oder übertrieben. Es ist die Normalität der verunglückten Moderne, die sich zeigt an deformierter Natur, an rätselhaft lebensunfähig gewordenen Menschen, die in ihre Beziehungen verkettet sind und in ihrem endlos dauernden Untergang nurmehr komisch wirken.

Eine Welt voll falscher Wirklichkeiten tut sich vor dem Gehenden und wie gebannt Betrachtenden auf, in der sich Altbekanntes augenblicklich verwandelt und Bewährtes den Bach runter geht.

Immer wieder spornt sich der Schauspieler an, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen („Hoch den Kopf, und hoch das Herz!“), verwirft dann wieder Ziel und Absicht, zweifelt natürlich an der Liebe (zu) einer Frau und verzweifelt an seiner Unfähigkeit, da draußen doch noch einmal und wie auch immer heimisch zu werden: „Hier in der Fremde gehörte nicht bloß der Himmel einem nicht...“

Die Figuren aus vergessenen Ländern, die ihm als Fragen- und somit Fallensteller in die Quere und Länge kommen; die Relikte aus kleinen und großen Kriegen, die sich vor ihm auftürmen wie der Schrott einer dem Wahn- und Irrsinn verschriebenen Völkergemeinschaft, die nur Zwietracht gesät und Jammern geerntet zu haben scheint; die absurden Errungenschaften einer der Natur auf Leib und Grund gerückten armseligen Bande apparatehöriger Dutzendgesichter – dem in die Niemandsländer Aufgebrochenen bleibt nichts erspart.

Chronist der Lächerlichkeit

Und doch nimmt er all das mit (selbst)ironischem Gleichmut, der „zweite Blick“ lässt ihn in diesen „Bannkreisen“ einer sich selbst das Wasser abgrabenden Kultur zu einem Chronisten der Hoffnungslosigkeit und Lächerlichkeit gleichermaßen werden. So denkt und wünscht sich der Schauspieler zum Beispiel einmal für all die, die in öffentlichen Zügen lauthals telefonieren oder ohrenverstöpselt für Rundumbeschallung sorgen, spezielle Helme, die ihr Tun unhörbar machen – denn „es störe die öffentliche Ordnung und den sozialen Frieden ebenso wie das Verrichten der Notdurft vor aller Augen.“

War dies am Ende ein geglückter Tag für den Schauspieler, für den Schriftsteller mithin? Handke lässt den Mann oft genug rückwärts gehen, um zu zeigen, dass der Abschied von der sicheren Abgeschiedenheit ein sehnsüchtiger nach sich selbst ist. Denn der wirklich „Große Fall“, er steht wohl erst noch bevor.

Peter Handke: Der große Fall. Suhrkamp Verlag, Berlin. 280 Seiten, 24,90 Euro.
 

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